Einsamkeit:Nähe wagen

In einem Land, in dem sich die Menschen alleine fühlen, braucht es Wertschätzung für Menschen, die sich binden.

Von Matthias Drobinski

Frei zu sein hat seinen Preis, und zu den Kosten der Freiheit zählt die Einsamkeit. Es überrascht deshalb nicht, dass, wie nun die Bundesregierung mitgeteilt hat, in Deutschland der Anteil der Menschen steigt, die sich einsam fühlen, selbst unter Jugendlichen, bei den Älteren sowieso. Das Freie und Individuelle, Singuläre und Einzigartige genießt im Land die höchste Anerkennung, und singulär ist der Individualist nun mal am besten allein.

Die Starken, Mobilen und Kontaktfreudigen kommen mit dem Alleinsein, den Bindungen auf Zeit und unter Vorbehalt, meist ganz gut zurecht. Die Einsamkeit trifft jene, die sich das Alleinsein nicht ausgesucht haben, die Vergessenen im Zirkus der Einzigartigkeit: die armuts- oder wohlstandsverwahrlosten Kinder und Jugendlichen, die Alleinerziehenden, die Alten, denen die Freunde sterben und die Welt fremd wird.

Sich nun einfach die alten Bindungen von Familie, Dorf, Milieu zurückzuwünschen wäre nichts als falsche Nostalgie - zu Recht wollen vor allem die Frauen nicht mehr den Preis dieser Lebensformen zahlen. Mehr Wertschätzung für alle, die sich an andere Menschen binden, die Nähe und Gemeinschaft möglich machen, könnten Staat und Gesellschaft aber schon im Kampf gegen die schleichende Einsamkeit aufbringen: für traditionelle wie für Regenbogenfamilien, für Mehrgenerationen- oder Dorfgemeinschaften, für alles, was Menschen zusammenbringt. Egal, ob als Verwandtschaft oder Wahlverwandtschaft.

© SZ vom 01.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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