Süddeutsche Zeitung

Eine erneute große Koalition?:Alles andere wäre schlimmer

Das Sondierungspapier ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Es ist voller bitterer Pillen, etwa für Flüchtlinge und Klimaschützer. Warum SPD und Union dennoch gemeinsam regieren sollten.

Kommentar von Ferdos Forudastan

Ja, ja und noch mal ja: Ja, es ist bis auf Weiteres eine nervtötende Warterei darauf, dass sich endlich Konturen einer künftigen Bundesregierung abzeichnen. Ja, die, die in den vergangenen Tagen sondiert haben und demnächst womöglich verhandeln, um dann irgendwann vielleicht zu koalieren, haben in der Zeit seit der Bundestagswahl oft keine gute Figur gemacht. Und ja, unter dem, was die Sondierer von CDU, CSU und SPD zusammengetragen haben, finden sich ein paar bittere Pillen. Trotzdem wäre es richtig und wichtig, dass Union und SPD nach den mühsamen, phasenweise quälenden Sondierungen die Verhandlungen über eine große Koalition sehr bald aufnehmen.

Richtig und wichtig wäre das zunächst, weil Deutschland eine stabile Regierung braucht. Ob und wie es gelingen kann, die Europäische Union zusammenzuhalten; welche Konsequenzen Deutschland daraus zieht, dass in Washington zeitweise der politische Wahnsinn wütet; was man sich im Umgang mit Flucht und Migration, mit der Zukunft von Rente oder Pflege, mit den umwälzenden Auswirkungen der Digitalisierung einfallen lässt: Unter anderem dieser drängenden Fragen muss sich eine Regierung annehmen, die eine Mehrheit des Bundestages hinter sich hat, eine Regierung, die nicht gezwungen ist, für jede Entscheidung, die sie zu treffen hat, mühsam und langwierig Stimmen aus der Opposition zusammenzuklauben.

Gewiss, was die Sondierer präsentierten, wirft einige Fragen auf, ist stellenweise dünn und in Teilen arg enttäuschend für die eine oder andere Seite und für so manche Bürger. Das Papier von Union und SPD belastet die viel Verdienenden noch immer zu wenig, es ist im Klimaschutz zu kleinmütig, und im Umgang mit Flüchtlingen zu hartherzig. Dass die SPD keinen höheren Spitzensteuersatz durchsetzen konnte, ist nicht nur für die Partei selbst bedauerlich, sondern auch für die soziale Gerechtigkeit in diesem Land. Sozialdemokraten mögen es als ihren Erfolg verbuchen, dass der Familiennachzug nun festgeschrieben ist - dass künftig monatlich gerade mal 1000 Ehepartner, Eltern oder Kinder von subsidiär Geschützten kommen dürfen, wird für die allermeisten, sehnsüchtig wartenden Flüchtlinge hier jedoch kein Trost sein.

Bis ihre engsten Angehörigen es hierher schaffen, werden oft Jahre vergehen. Und an einer anderen, sehr wichtigen Stelle im Kapitel Migration geht die SPD vor der CSU regelrecht in die Knie: Die Zahl von 180 000 bis 220 000 Zuwanderern - und dazu zählen ausdrücklich auch Kriegsflüchtlinge - werde nicht überschritten, steht da. Und das klingt, auch wenn man betont, das Grundrecht auf Asyl bleibe unangetastet, doch nach genau der Obergrenze, welche die Christsozialen unermüdlich gefordert und die Sozialdemokraten unermüdlich und aus sehr gutem Grund abgelehnt hatten.

Das Papier ist ein Kompromiss, mit dem Union und Sozialdemokraten arbeiten können - und mit dem sie auch arbeiten sollen. Es geht nun um das Ausbuchstabieren

An anderer Stelle in dem Kompromiss ist nicht nur die Handschrift der Sozialdemokraten unverkennbar; unverkennbar ist auch, dass diese Gesellschaft ein Stück sozialer werden könnte, wenn aus dem Sondierungspapier irgendwann ein Koalitionsvertrag werden sollte.

Dass Sozialabgaben für Geringverdiener gesenkt werden sollen, dass man Sozialleistungen ausbauen will, Entlastung bei den Kita-Gebühren verspricht oder mehr Geld für Familien und Pflege, dass die gesetzliche Krankenversicherung wieder zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert und das Rentenniveau festgeschrieben werden soll, dass mit der Frauenquote bis 2025 alle Leitungsposten im öffentlichen Dienst zu gleichen Teilen mit Männern und Frauen besetzt wären: All das und noch einiges mehr müsste eigentlich jenen ein bisschen den Wind aus den Segeln nehmen, die behaupten, eine weitere große Koalition würde nahezu nichts in diesem Land ändern und kaum etwas besser machen.

So vage das Kapitel Europa in dem Einigungspapier in einigen Passagen inhaltlich ausfällt und so wenig seine Anmutung mit dem kraftvollen, lautstarken Vorstoß des französischen Präsidenten Emmanuel Macron hin zu einer noch viel enger verwobenen Europäischen Union gemein hat: Der Sound ist ausgesprochen proeuropäisch. Und was da steht, lässt Spielraum, den weiteren Ausbau der EU voranzutreiben.

Was die Sondierer von CDU, CSU und SPD zusammengetragen haben, ist sicher noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Es lässt Wünsche (nicht nur bei den drei Parteien, sondern sicher auch in der Bevölkerung) offen, Wünsche, über die geredet werden muss. Aber das Papier ist ein Kompromiss, mit dem Union und Sozialdemokraten arbeiten können und mit dem sie auch arbeiten sollten.

Die Sondierer sollten so rasch und so konstruktiv wie möglich ausloten, wie man das, was bis jetzt nur umrissen ist, weiter ausbuchstabieren könnte - wo es als Grundlage einer weiteren großen Koalition taugen würde und wo noch nachgebessert werden muss. Den SPD-Oberen wird es nicht ganz leicht fallen, ihre Groko-kritische Basis so weit zu überzeugen, dass sie beim Parteitag am übernächsten Sonntag mehrheitlich für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen stimmt.

Die Führung der Sozialdemokraten wird einige Energie darauf verwenden müssen, den Blick darauf zu lenken, dass die Sozialdemokraten in dem Kompromiss zwar Federn lassen mussten, dass sie aber auch eine Reihe ihrer Anliegen durchsetzen konnten. Und schließlich muss die SPD-Spitze sehr klarmachen, dass die Alternative zu einem weiteren Bündnis aus Union und SPD sehr wahrscheinlich Neuwahlen hieße und was das bedeuten würde: noch mehr verdrossene Bürger, die den Eindruck haben, dass die Politik ihren Aufgaben nicht gewachsen ist oder sich vor ihnen drückt; noch weniger Stimmen auch und gerade für die SPD; noch mehr Zulauf für die AfD. Ob die sozialdemokratische Basis das hinnehmen will, ob sie es hinnehmen kann oder hinnehmen soll? Nein, nein und noch mal nein.

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Quelle:
SZ vom 13.01.2018
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