Eindrücke aus Nordafrika:Europa verliert an Attraktivität

Spain, Strait of Gibraltar

Die schmale Meerenge von Gibraltar, die Nordafrika von Europa trennt

(Foto: Esa)

Junge Marokkaner blicken immer skeptischer auf Europa: Sie kennen die Wirtschaftsprobleme und die Diskriminierung im Alltag. Für die Elite wird eine andere Region interessanter.

Ein Gastbeitrag von Maël Baseilhac

Als ich vor zwei Jahren nach Marokko kam, um hier an einer Hochschule zu arbeiten, wusste ich kaum etwas über Land und Leute. Ich hatte dort nie Urlaub gemacht und hatte nur aufgrund dessen, was ich über das Land gelesen und von marokkanischen Freunden in Frankreich erfahren hatte, eine ungefähre Vorstellung von der nationalen Kultur. Einige Wochen später, nachdem ich mich in der Hauptstadt Rabat eingelebt hatte, hätte ich allmählich von der anderen Seite des Mittelmeeres eine soziologische Untersuchung der französisch-marokkanischen Beziehung durchführen können.

Am auffälligsten ist die offensichtliche Faszination, die Europa auf die Bevölkerung ausübt. Die Region Nordafrika zeigt eindrucksvoll, welche Anziehungskraft Europa hat und ist, wenn man es aus einem breiteren Blickwinkel betrachtet, ein Beispiel für Europas enorme Fähigkeit, Verhaltensweisen in Marokko zu beeinflussen. Joseph Nye hat diese Art von Einfluss 1990 als "Soft Power" bezeichnet, ein Ausdruck, der in den internationalen Beziehungen seitdem häufig verwendet wird.

Tagtäglich lassen sich Beispiele dieses Einflusses finden. Am verblüffendsten ist vielleicht dies: Marokkaner haben die Angewohnheit, auf der linken Seite des Nummernschildes eine europäische Flagge mit dem Anfangsbuchstaben eines europäischen Landes anzubringen, um den Eindruck vorzutäuschen, dass ihr Auto in der EU angemeldet ist. Fragt man nach dem Grund für diese Angewohnheit, so hört man, dass es eben hier sehr angesagt ist. In Frankreich würde niemand mit einem in Marokko angemeldeten Auto herumfahren, nur weil es trendig ist!

Der spanische Clásico ist wichtiger als jedes Derby in Marokko

Ein weiteres Beispiel ist die Faszination, die spanische Fußballmannschaften auf marokkanische Fans ausüben. Marokkanische Fußballfans sind über ein nationales Spiel sehr viel weniger gespalten als über den spanischen "Clásico". Tatsächlich löst eine Partie zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona deutlich mehr Begeisterung und Differenzen aus, als wenn die beiden Teams von Casablanca gegeneinander spielen.

Darüber hinaus ist der Einfluss Europas bei jeder vom Institut français oder einer anderen internationalen Kultureinrichtung organisierten kulturellen Veranstaltung deutlich sichtbar. Konzerte von europäischen Künstlern sind gut besucht, französische Sänger finden großen Anklang und marokkanische Künstler haben großes Interesse daran, mit Akteuren aus dem europäischen Kulturbereich zusammenzuarbeiten.

Doch es gibt auch Anzeichen dafür, dass die marokkanische Jugend gegenüber Europa skeptischer geworden ist. Wir leben in einer offenen Welt und die neue Generation ist bestens vernetzt. Junge Marokkaner erinnern sich noch gut an die Unruhen in den Banlieues im Jahr 2005, die vorrangig in französischen Vororten mit vielen Zuwandererfamilien stattfanden.

Sie kennen die Berichte über die permanente Stigmatisierung der Zuwanderer in Europa. Sie wissen über die wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede Bescheid und, was noch wichtiger ist, über die Stimmenzuwächse rechter und nationalpopulistischer Parteien in Frankreich und Europa.

Wieso die Marokkaner selbstbewusster werden

Viele junge marokkanische Eliten überdenken derzeit ihren dringenden Wunsch, nach Europa auszuwandern. Die Krisen und nationalistischen Signale, die aus vielen europäischen Staaten kommen, stellen die Jugend hier vor eine neue Ausgangslage. Die boomende marokkanische Volkswirtschaft führt darüber hinaus zu neuem nationalem Selbstbewusstsein.

Das jüngste Beispiel hierfür ist die diplomatische Krise, die im Februar dadurch verursacht wurde, dass französische Sicherheitskräfte versucht hatten, den Chef des marokkanischen Geheimdienstes während eines Besuchs in Paris zu den Anschuldigungen hinsichtlich seiner Verwicklung in Folter zu befragen. Daraufhin kam es in den Straßen von Rabat zu Krawallen, diplomatische Abkommen wurden ausgesetzt und der französische Botschafter stand kurz vor seiner Ausweisung.

Im Allgemeinen vereint Europa noch immer die Hoffnungen und Träume der neuen Generation, aber ihre Haltung ist sehr viel differenzierter als etwa die ihrer Eltern. Heutzutage erwägen immer mehr Marokkaner, im Ausland zu studieren, um dann in ihre Heimat zurückzukehren und beim Aufbau ihres Landes mitzuhelfen. Ein typischer Satz, den ich oft höre, ist: "Warum sollte ich nach Frankreich ziehen und dort arbeitslos sein, wenn alle Franzosen auf der Suche nach Jobs zu uns kommen?!"

Der Nahe Osten wird attraktiver

Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Arbeitslosenquote in Marokko ist alarmierend hoch und nur die sehr kleine, gut ausgebildete Elite hat mit Arbeit Aussicht auf ein einträgliches Leben in Marokko. Dennoch sind diese Ansichten ganz neu und finden langsam in der Gesellschaft Gehör. Nicht zuletzt erwägen viele Marokkaner, die über Auswanderung aus beruflichen Gründen nachdenken, Europa als ihr ursprüngliches Objekt der Begierde aufzugeben und zwar zugunsten des Nahen Ostens, der mit zweistelligen Wachstumsraten lockt. Diese neue Entwicklung müssen wir Europäer im Auge behalten.

Frankreich pflegt eine Hassliebe zu seinen marokkanischen Zuwanderern. Weil sie zu oft als lästig und renitent charakterisiert wurden, hat die marokkanische Gemeinschaft ein schlechtes Image in Frankreich. Gleichwohl ist Marokko eines der beliebtesten Reiseziele der Franzosen. Meine Landsleute lieben die marokkanische Art zu leben, das Essen, das Klima und die Kultur. 44 Jahre französisches Protektorat hat beide Seiten des Mittelmeeres eng miteinander verbunden. Unsere Völker werden für immer eine gemeinsame Sprache teilen.

Man muss betonen, dass Europäer, die nach Marokko ziehen, herzlich und warm empfangen werden, trotz der eher kühlen Einstellung der Franzosen gegenüber marokkanischen Zuwanderern. Dies scheint etwas Besonderes zu sein, weil nicht alle Zuwanderer so behandelt werden. Der marokkanische Staat provoziert nationalistische Schemata über Zuwanderer südlich der Sahara, die ausländerfeindliche Ressentiments und rassistisches Verhalten auslösen.

Einige dieser falschen Annahmen scheinen unausweichlich zu einer Situation zu führen, die ihre Landsleute in Frankreich schon seit Jahrzehnten ertragen und angeprangert haben. Obwohl Marokkaner wissen, wie ihre Landsleute in Frankreich behandelt werden, begrüßen sie die Zuwanderung in den Westen mit Freude und Neugierde. Voller Respekt und Rücksicht scheint Vertrauen zwischen den beiden Kulturen zu herrschen. Abgesehen von den Überresten der Kolonialisierung, ist es Fakt, dass sich Marokkaner nicht als Afrikaner sehen.

Wenn sie mit anderen Einheimischen sprechen, beziehen sie Afrika auf das Gebiet südlich der Sahara und schließen die Maghreb-Region aus, was viel darüber aussagt, wie sich die Marokkaner selbst sehen. Verankert im afrikanischen Kontinent, aber ganz klar auf Europa ausgerichtet, ist Marokko am Scheideweg einer Vielzahl von Kulturen. Und für die, die sich dessen bewusst sind, spiegelt die marokkanische Gesellschaft ein faszinierendes und komplexes Bild von Europa wider. Betrachten sie ihr Spiegelbild im Mittelmeer, werden europäische Gesellschaften nicht nur viel über Marokko und die Zukunft Afrikas, sondern auch über sich selbst erfahren.

Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Kooperation "Mein Europa" von Süddeutsche.de mit dem Projekt FutureLab Europe der Körber-Stiftung. Bis zur Europawahl Ende Mai werden in der Serie junge Europäer zu Wort kommen - streitbar, provokativ und vielfältig.

Maël Baseilhac, 27 Jahre alt, hat in Montreal und Rom studiert und arbeitet nun an einer Universität in Marokko. Er schrieb zuletzt für "Mein Europa" über nationale Stereotypen in der EU.

An English version of the text is available at the website of FutureLab Europe.

Übersetzung: Dorothea Jestädt

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