Süddeutsche Zeitung

Ein Jahr neues Waffenrecht:Das Recht auf Unversehrtheit

Das verschärfte Waffenrecht geht einigen nicht weit genug: Eltern von Opfern des Amoklaufs in Winnenden legen Verfassungsbeschwerde ein. Sie fordern das Verbot von privaten Schusswaffen. Sportschützen fühlen sich dagegen zu Unrecht bestraft.

H. Ziegler

113 leere Patronenhülsen sind es, die nach der Bluttat zurückbleiben. Belege der blinden Wut, die einen 17-Jährigen dazu getrieben hat, 15 Menschen in den baden-württembergischen Städten Winnenden und Wendlingen zu töten. Die Tat wird zum Politikum. Wenige Monate vergehen, dann beschließt die Bundesregierung ein strengeres Waffengesetz, das Amokläufe wie in Winnenden oder Erfurt künftig verhindern soll. Seit dem 25. Juli 2009 ist es in Kraft.

Seit einem Jahr dürfen Jugendliche unter 18 Jahren nun nicht mehr mit großkalibrigen Waffen schießen. Bis zum Sommer des vergangenen Jahres konnten das schon 14-Jährige. Den Mitgliedern der Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen" reicht das nicht. Sie halten das Gesetz für verfassungswidrig, weil es die Interessen von Sportschützen über das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit stelle.

Jetzt legen sie beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Beschwerde ein. Zwei der Kläger sind selbst betroffen: Ihre Kinder wurden beim Amoklauf in Winnenden getötet. "Solange der private legale Gebrauch tödlicher Schusswaffen erlaubt ist, so lange ist absehbar auch ein Missbrauch dieser Waffen möglich, ja nach der Lebenserfahrung sogar zu erwarten", heißt es in einer Erklärung der Initiative.

Der Vater des Täters von Winnenden, ein Sportschütze, hatte die tödliche Neun-Millimeter-Waffe offen im Haus liegen lassen. Eine Beretta 92. Eigentlich für Militär und Polizei entwickelt, ist diese Pistole in vielen deutschen Privathaushalten keine Seltenheit. Sein Sohn war erfahren im Umgang mit der Pistole. "Um mit so einer Waffe gezielt schießen zu können, muss man üben, sonst kommt man mit dem Rückstoß nicht zurecht", sagt Bernd Carstensen vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Solch ein Training soll das schärfere Gesetz unmöglich machen.

Viele Waffenbesitzer fühlen sich bestraft. Erst müssen sie spezielle Schränke kaufen - einen für die Munition, einen separaten für die Waffen - und dann können auch noch jederzeit unangemeldet Kontrolleure vor der Haustür stehen und überprüfen, ob die Gewehre gesetzeskonform gelagert werden. Was in der Theorie streng klingt, entpuppte sich in der einjährigen Praxis jedoch als Farce.

Der BDK würde großkalibrige Waffen am liebsten ganz aus den Privathaushalten verbannen. Und auch bei der Lagerung sehen sie noch Verbesserungsbedarf. Waffen und Munition sollten nicht nur in getrennten Schränken, sondern auch an zwei verschiedenen Orten aufbewahrt werden, zum Beispiel zu Hause und im Schützenverein", so Carstensen. Durch die räumliche Distanz könnten lebensgefährliche Kurzschlussreaktionen verhindert werden.

Ende Oktober 2009 wurden in ganz Baden-Württemberg 1073 Kontrollen durchgeführt. Die Beanstandungsquote lag bei mehr als 50 Prozent. Mehrheitlich waren keine oder nur unzulässige Waffenschränke vorhanden, berichtet das Innenministerium des Landes. Im Rems-Murr-Kreis, zu dem auch die Stadt Winnenden gehört, wurden seit Einführung des Gesetzes 102 Kontrollen durchgeführt. "In unserem Zuständigkeitsbereich besitzen etwa 2300 Personen eine Waffe mit Waffenbesitzkarte, die haben wir angeschrieben, nachdem das Gesetz erlassen wurde", sagt Steffen Becker vom Landratsamt des Rems-Murr-Kreises. Sie mussten nachweisen, dass sie die Waffen legal besitzen und aufbewahren, so wie alle anderen Eigner von rund zehn Millionen Waffen bundesweit. "Im Wesentlichen sind die Leute schon verständnisvoll", sagt Becker. Dennoch gebe es auch immer wieder Diskussionen mit den Schützen an der Haustür.

"Die Politiker nehmen uns nicht ernst"

Die müssen im Übrigen nicht einmal ihre Türen öffnen, wenn sie keine Lust dazu haben. Schließlich sind es ihre Privaträume. "Theoretisch gibt es zwar die Möglichkeit, den Zugang über das Verwaltungsgericht einzufordern, praktisch wird das aber kaum passieren", ist BDK-Mann Carstensen überzeugt. Zu aufwändig. Lediglich 56 registrierte Waffenbesitzer öffneten bei den bisherigen Kontrollen im Rems-Murr-Kreis die Tür, bei 40 von ihnen wurden Mängel festgestellt.

Ohnehin sei die Personaldecke in den Waffenrechtsbehörden viel zu gering. "Um jeden Besitzer einmal pro Jahr zu kontrollieren, bräuchten wir dort mehrere tausend Leute zusätzlich." Rein rechnerisch ist man derzeit lediglich alle zehn Jahre von einer Kontrolle betroffen.

Dann gibt es noch das Problem mit den illegalen Waffen. In Schätzungen geht man davon aus, dass etwa doppelt so viele illegale wie legale Waffen im Umlauf sind. Also 20 Millionen im gesamten Bundesgebiet. Mit Verabschiedung des strengeren Waffengesetzes wurde eine Amnestieregelung bis zum 31. Dezember 2009 gewährt. Waffenbesitzer, legitim oder nicht, konnten ihre Schusswaffen abgeben, ohne mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen zu müssen. 200.000 Menschen in Deutschland nutzten diese Gelegenheit. In Baden-Württemberg wurden 46.000 rechtmäßig besessene sowie 7000 illegale Waffen freiwillig zum Entsorgen bei den zuständigen Behörden abgegeben.

Auch Hardy Schober von der "Stiftung gegen Gewalt an Schulen" gehen die Gesetzesänderungen nicht weit genug. Seine Tochter zählt zu den Opfern des Amoklaufs. "Meiner Meinung nach haben die Politiker vorschnell gehandelt, um die Gemüter zu beruhigen." Erst vor wenigen Wochen hat der Opferverband von Winnenden eine Petition mit mehr als 100.000 gesammelten Unterschriften in Berlin abgegeben. Darin fordern sie ein generelles Verbot von großkalibrigen Waffen. Sport könne man auch mit anderen Waffen ausüben, sagen sie.

"Die Politiker nehmen uns nicht ernst", sagt Schober. Für sie sei das Waffengesetz lediglich eine parteipolitische Frage und keine ethische. "Winnenden kann sich jederzeit wiederholen. Das neue Waffenrecht ändert daran gar nichts."

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