Süddeutsche Zeitung

Ein Bild und seine Geschichte:Ein bisschen Frieden im Ersten Weltkrieg

Ostfront 1917: Nach drei Jahren Gemetzel tanzen deutsche und russische Soldaten auf den Schlachtfeldern. Was ist passiert?

Von Jeremias Schmidt und Oliver Das Gupta

Ein Bild und seine Geschichte

SZ.de zeigt in loser Folge jeweils ein besonderes Foto oder eine besondere Abbildung. Hinter manchen Aufnahmen und Bildern steckt eine konkrete Geschichte, andere stehen exemplarisch für historische Begebenheiten und Zeitumstände. Übersicht der bisher erschienenen Texte

Am 15. Dezember 1917 schweigen an der gesamten Ostfront die Waffen. Russen, Deutsche und die Truppen von Österreich-Ungarn kämpfen nicht mehr. Nach dreieinhalb Jahren und Abermillionen Toten endet so der Erste Weltkrieg im Osten. Die überlebenden Soldaten kriechen aus ihren Unterständen und Schützengräben hervor.

Im Niemandsland zwischen Stacheldrahtverhauen finden sich die Männer ein und feiern gemeinsam. In der Todeszone von gestern wird nun musiziert, die Männer trinken gemeinsam und betreiben Tauschhandel. Die kriegsmüden Feinde von einst posieren für Fotos, um das ersehnte Ereignis festzuhalten, sie tanzen. So entsteht auch diese Aufnahme.

Systematische Fraternisierungen

Solche Verbrüderungen gab es auch an der Westfront. Über den Weihnachtsfrieden im ersten Kriegsjahr 1914 wurden später Filme gedreht, Ex-Beatle Paul McCartney machte aus dem Stoff sogar einen Pop-Song. Weniger bekannt und bislang spärlich dokumentiert ist das Phänomen an der Ostfront. Dort forciert es die deutsche Führung sogar zwischenzeitlich.

Nach der Abdankung des Zaren in der Februarrevolution versucht Berlin auf unterschiedlichen Ebenen, Russland zu destabilisieren: Berlin lässt den Bolschewistenführer Wladimir Iljitsch Lenin mit einem Sonderzug von der Schweiz durch Deutschland in Richtung Russland rollen. Parallel dazu unterstützt das Militär an der Ostfront "systematische Fraternisierungen, um den Kampfwillen der russischen Truppen zu schwächen", schreibt der Freiburger Historiker Jörn Friedrich in seinem Weltkriegsbuch "Die Büchse der Pandora".

Durch Propaganda - vor allem Flugblätter - und zurückgefahrene Kampfhandlungen sollen die russischen Soldaten zum Desertieren ermuntert werden. Das Kalkül der Deutschen hat damals auch mit der eigenen prekären Lage zu tun: Für großangelegte Schlachten an zwei Fronten hatte das Kaiserreich schlicht keine Ressourcen mehr. Durch das Ende des Weltkrieges im Osten hofft die Reichsführung die ausgeblutete Truppe in Frankreich so zu verstärken, um die Westfront zu stabilisieren.

An großen Teilen der Ostfront kamen daraufhin die Kampfhandlungen im Frühling vor 100 Jahren weitgehend zum Erliegen. Über das russisch-orthodoxe Osterfest, das 1917 nach dem damals in Russland noch geltenden Julianischen Kalender auf Anfang Mai fiel, wurde gar ein Schießverbot verhängt.

"Die Russen küssten unsere Soldaten"

Tatsächlich verließen daraufhin die Russen in Scharen ihre Gräben. Dass die deutschen Soldaten es ihnen gleichtun würden, war im Plan der Obersten Heeresleitung allerdings nicht vorgesehen. Es folgte eine breite Welle der Fraternisierung, deren Eigendynamik kaum mehr eingedämmt werden konnte.

Von der Front im heutigen ukrainisch-weißrussisch-polnischen Grenzgebiet beschreibt der Schütze Karl Falkenhain am 5. Mai 1917 seiner Frau, dass deutsche Soldaten munter zwischen den Schützengräben wechseln. Mehrere Kameraden seien "schon öfter drüben gewesen und haben sich bei den Russen Brot geholt und sind immer wieder zurückgekommen", staunt Falkenhain.

Ein paar Hundert Kilometer südlicher, an der Karpatenfront, tummeln sich Hunderte Soldaten von hüben wie drüben friedlich und froh auf dem Schlachtfeld. "Alles war lustig und guter Dinge", notiert Unteroffizier Ernst Kießkalt vom Bayerischen 3. Landsturm-Infanterieregiment. "Die Russen küssten unsere Soldaten (...) ein Trupp von ungefähr 20 Russen marschiert unter dem Spiel einer Ziehharmonika herüber zu unserer linken Halbkompanie, wo sie Gastrollen gaben."

Obwohl in nahen Frontabschnitten noch geschossen wird, seien "im Tal auf den Wiesen unsere und die russischen Soldaten einträchtig beisammen" gestanden, schreibt Kießkalt. "Es war ein Bild zum Malen, doch wäre ich mit einer fotographischen Aufnahme sehr zufrieden gewesen."

Dort, wo sich die russische und die Armee von Österreich-Ungarn gegenstehen, spielen sich ähnliche Szenen ab. "Die Russen tauchten entland der ganzen Linie in Gruppen auf, sie kamen mit ihren Offizieren herüber und schwenkten weiße Fahnen", erinnert sich später Generaloberst Hermann Kövess von Kövessháza.

Eine besondere Rolle spielt anscheinend, dass die Deutschen eifrig Schnaps und die Österreicher Rum an ihre Gegner ausschenken, wie der Wiener Historiker Manfried Rauchensteiner in seinem Buch "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie" dokumentiert. Denn durch das gemeinsame Picheln wird ein striktes Alkoholverbot unterminiert, das für einfache russische Soldaten damals gilt. Frieden bedeutet für die Russen also auch, endlich saufen zu können.

Die höheren Chargen in der Armee rümpfen über die Verbrüderungen des Fußvolkes die Nase - und fürchten Schlimmes. "Auf diese Weise" könne das "revolutionäre Gift allmählich zu uns herüberdringen", notiert sich der deutsche Offizier Albert Ritter von Beckh in sein Tagebuch, "der Abscheu vor den Umstürzlern und Treuebrechern geht verloren. Man sollte sich auf den Standpunkt stellen, mit Revolutionären und disziplinlosen Soldatenräten verhandelt man nicht!"

Mit dieser Einschätzung lag der Offizier richtig. Nicht wenige Russen wollen auch die "Revolutionierung der Soldaten der Mittelmächte" betreiben. Entsprechend werden auf russischer Seite deutsche Kriegsgefangene bearbeitet: "Jetzt vertreibt noch den (Kaiser) Wilhelm, wie wir den Zaren vertrieben haben, dann wird kein Blut mehr fließen und wir sind Brüder."

Den Führungsspitzen in Wien und Berlin dämmert, dass die Vorgänge an der Ostfront eine "zweischneidige Angelegenheit" sind, wie Rauchensteiner schreibt. Die Kampfmoral der Soldaten beginnt zu erodieren. Die deutsche Heeresleitung hatte sich verkalkuliert, wie wirkmächtig für beide Seiten die Fraternisierungen waren.

Kurz darauf ergehen Befehle an die Truppe, dass jeder Mann, welcher seinen Schützengraben verlässt, unverzüglich zu erschießen sei. Offiziere, welche gegen diese Auflagen verstießen, hätten "rücksichtlose" Strafmaßnahmen zu erwarten.

Alarmstimmung in den Hauptquartieren

Bei der Durchsetzung dieser harten Linie bekommt die deutsche Führung Hilfe von unerwarteter Seite: Auch in den russischen Hauptquartieren ist man alarmiert über die Friedfertigkeit der eigenen Truppe. Hunderttausende Soldaten desertieren, zwischen 370 000 bis zu eine Million Russen sollen es im Revolutionsjahr 1917 sein.

Die neue bürgerliche Regierung in Petrograd, wie Sankt Petersburg damals heißt, will den Krieg fortführen. Kriegsminister Alexander Fjodorowitsch Kerenski, der später als auch Regierungschef amtiert, ordnet im Sommer sogar eine weitere Offensive an.

Erst nach der Oktoberrevolution ändern sich die Dinge. Lenins siegreiche Bolschewisten suchen die Verständigung mit Berlin und Wien. Das große Töten und Sterben geht noch ein paar Wochen weiter, bis im Dezember 1917 endgültig die Waffen an der Ostfront schweigen. Dann liegen sich deutsche, russische und österreichische Soldaten erneut in den Armen.

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