Süddeutsche Zeitung

Ehrenamt:"Ziel ist es, die Leute aufzufangen"

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Wie die Mainzerin Ursula Schott Opfern von Gewalt und Kriminalität seit zehn Jahren als ehrenamtliche Helferin des Weißen Rings am Telefon beisteht.

Interview von Edeltraud Rattenhuber

SZ: Frau Schott, werden Verbrechensopfer vergessen?

Ursula Schott: "Wenn alle den Täter jagen, wer bleibt dann beim Opfer?", war einer der Gründungsimpulse des Weißen Rings. Wir haben es uns auf die Fahne geschrieben, für die Opfer da zu sein. Durch die Öffentlichkeitsarbeit der vergangenen Jahre hat sich aber meines Erachtens auch diesbezüglich einiges gewandelt.

Wollen Opfer überhaupt im Mittelpunkt stehen? Viele ziehen sich doch erst einmal zurück.

Das ist richtig. Aber es ist auch wichtig, die Menschen für die Opfer zu sensibilisieren. Es muss in das Bewusstsein jedes Einzelnen eingehen, dass Opfer oftmals akut Hilfe benötigen.

Es ist nicht einfach, einem Fremden zu erzählen, wie es einem nach einem Übergriff geht. Wie sprechen die Leute Sie an?

Das kommt immer auf die Straftat an. Jemand, der durch einen Raubüberfall oder einen Diebstahl Opfer wurde, der kommt ganz anders daher als jemand, der sexuell missbraucht wurde. Da gibt es oft Hemmungen. Die Anruferinnen fragen anfangs etwa sehr vorsichtig: Muss ich meinen Namen sagen? Und andere, die kommen ganz rigoros an: Ich bin überfallen worden, hab kein Geld mehr, was mach ich jetzt?

Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Telefonate zu häuslicher Gewalt wieder angestiegen. Wie erklären Sie sich das?

Es wird ja mittlerweile viel aufgeklärt über solche Delikte. Und die Frauen haben auch mehr Mut, darüber zu sprechen. Arbeitskolleginnen oder Freundinnen sagen, ruf doch beim Weißen Ring an. Haben die Betroffenen die Polizei eingeschaltet, erhalten sie sehr oft unsere Kontaktdaten und werden ermutigt, bei uns anzurufen.

Melden sich da nur Frauen?

Nein, auch Männer, aber die meisten sind Frauen.

Welche Probleme kommen denn sonst vor allem zur Sprache?

Diebstahl und Körperverletzung. Und Stalking ist ein ganz großes Thema. Viele Stalking-Opfer haben ja keine Kenntnisse, wie sie dagegen vorgehen sollen, zum Beispiel dass sie alles aufschreiben sollen, jede Kontaktaufnahme mit Uhrzeit und wie sie erfolgt ist. Ein Stalking-Tagebuch eben. Und dass sie alles aufheben sollen, damit sie was in der Hand haben, wenn sie sich entscheiden, die Person anzuzeigen.

Wie läuft denn ein Drei stunden dienst am Telefon bei Ihnen ab?

Ich hab mir das tatsächlich einmal notiert, ist schon länger her. Der erste Fall war ein Überfall in Spanien. Die Leute wurden nachts im Auto betäubt - ganz klassisch: Morgens aufgewacht und alles im Wohnmobil geklaut. Dann hatte ich drei Vergewaltigungsfälle, wobei einer ganz aktuell war und zwei uralt.

Also schon lange her?

Ja, das ist bei Vergewaltigungen ein Phänomen. Manche rufen nach 40 Jahren zum ersten Mal an. Selten melden sich Vergewaltigungsopfer gleich nach der Tat.

Wie erklären Sie sich das?

Das Thema ist mit sehr viel Scham behaftet. Oftmals fühlen sich die Opfer schuldig. Die Täter leben oft in der eigenen Familie. Da entstehen Ängste. Angst vor weiterer Gewalt, Angst, die Familie zu spalten, ja kaputtzumachen, sodass sie auseinanderbricht, Angst, alleine zu sein, und die Angst, als Lügner dazustehen, weil einem nicht geglaubt wird. Es gehört sehr viel Mut dazu, über das Thema zu sprechen.

Und wie ging es an dem Tag weiter?

Eine Brandstiftung, da wurde das Haus eines Mannes angezündet und brannte ab. Dann zwei Stalking-Fälle. Und ein Mord. Ein Mann meldete sich, weil seine Eltern überfallen und getötet wurden. Einer meldete sich, der bedroht wurde. Dann kamen noch drei Anrufer mit Verfolgungswahn. Zwölf Gespräche an einem Tag, ein guter durchschnittlicher Dienst.

Das sind ja schlimme Probleme. Was erwarten die Leute von Ihnen?

Unser Ziel ist es erst einmal, die Leute aufzufangen, die Menschen und ihr Problem ernst zu nehmen und zu gucken: Was brauchen sie? Sie kriegen nichts übergestülpt. Und wenn sie bereit sind, sich Hilfe zu holen, bei unseren Außenstellen oder bei einem unserer Partner in unserem Hilfe-Netzwerk, dann sind wir ein ganzes Stück weiter. Was mich froh macht, ist, wenn die Anrufer am Schluss erleichtert auflegen und sagen, jetzt geht es mir besser.

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Quelle:
SZ vom 04.09.2019
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