Fehlendes ehrenamtliches Engagement:Es grassiert eine neue bürgerschaftliche Abstinenz

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Das schöne Reden von der Zivilgesellschaft als "konkrete politische Utopie" bleibt immer öfter hohles Gerede. (Foto: Rainer Jensen/dpa)

Zur Not ein NPD-Mann als Ortsvorsteher? Die Krise des Ehrenamts zeigt, dass unserer Art des Arbeitens und Wirtschaftens die soziale Dimension fehlt - und dass sich gesellschaftliche Strukturen gerade fundamental verändern.

Kolumne von Heribert Prantl

Sie hatten keinen anderen. Es wollte das kein anderer machen: zu viel Arbeit, nebenberuflich, ehrenamtlich, für eine nur kleine Aufwandsentschädigung. Es war wirklich gerade kein anderer da, nur eben er, der NPD-Funktionär, der stellvertretende Landesvorsitzende der Neonazis, der Mann mit den rechtsextremen Parolen auf der Facebook-Seite. Aber er hatte versprochen, sich wirklich zu kümmern um die Waldsiedlung, einen Ortsteil von Altenstadt in Hessen. Also wählten ihn die lokalen Repräsentanten von CDU, SPD und FDP zu ihrem Ortsvorsteher. Über die braune Gesinnung des Mannes sah man geschichtsvergessen und naiv hinweg. Es war eben kein anderer da. Empörung allerorten.

Wenn überall da, wo kein anderer da ist, ein Neonazi ins Amt gesetzt würde - Deutschland sähe aus, als hätte es die Masern in Braun. Die Kommunalpolitik ist die "Schule der Demokratie". Was ist der Lehrplan, wenn es immer öfter "keinen anderen" gibt? Vor der jüngsten Kommunalwahl in Rheinland-Pfalz fehlten in 465 Orten die ehrenamtlichen Bürgermeisterkandidaten. 20 Prozent aller Kommunen waren ohne Bewerber. "Bürgermeister händeringend gesucht", schrieben die Lokalzeitungen auch in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern.

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Es gibt Gemeinden, die selbst bei der Suche nach einem hauptamtlichen Bürgermeister (immerhin Besoldung nach B1 mit 5000 Euro im Monat) Schwierigkeiten haben. Eine Gemeinde in der Lüneburger Heide engagierte zur Suche einen Headhunter. Das funktioniert dann schon, für ordentlich bezahlte Jobs findet sich jemand. Für die vielen ehrenamtlichen Posten gilt das nicht.

Es gibt eine Krise des Ehrenamtes. Darunter leiden nicht nur Kommunen, darunter leidet auch das Vereinswesen: Feuerwehren und Sportvereine, Frauenräte und Pfadfindergruppen, Schützen-, Trachten- und Naturschutzvereine, Diakonie und Caritas. Sie finden immer öfter niemanden mehr, der den Vorstand oder den Schatzmeister machen will. Das schöne Reden von der Zivilgesellschaft als "konkrete politische Utopie" bleibt immer öfter hohles Gerede.

Heribert Prantl ist Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung. (Foto: N/A)

Es grassiert eine neue bürgerschaftliche Abstinenz. Das gilt auch für die Pfarrgemeinderäte bei den Katholiken, für die Presbyterien bei den Protestanten, für die ehrenamtlichen Kirchenverwaltungen also; das gilt für viele kirchlich-soziale Aktivitäten, die kaum noch aufrechterhalten werden können - ob es sich um Besuchsdienste bei alten Menschen, Nachbarschaftshilfe oder Bastelstunden für Kinder handelt. Das klingt läppisch; es betrifft aber den Alltag, in der Summe bedeutet es eine fundamentale Veränderung gesellschaftlicher Strukturen in Deutschland. Es bedeutet Entgemeinschaftung.

Selbst bei den 940 Tafeln, die in Deutschland 1,4 Millionen Menschen mit billigen oder kostenlosen Lebensmitteln versorgen und bei denen sich früher die Ehrenamtlichen zum Helfen gedrängt haben, werden Helfer knapp: Es fehlen Fahrer, welche die Lebensmittel abholen, es fehlen Leute, die sie sortieren und ausgeben, es fehlt immer öfter das langfristige und verlässliche Engagement. Who cares?

Nun kann man das Lamento von der egoistischen Gesellschaft anstimmen, die dazu neigt, auch Vereine nur unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten zu betrachten. Die Menschen der Konsumgesellschaft, so lautet diese Kritik, sind darauf trainiert worden, möglichst flexibel die Anbieter und die Tarife zu wechseln. Sie sehen sich also auch in Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und Vereinen nicht als Beteiligte, Mitmacher und Mitglieder, sondern als deren Kunden; sie empfinden daher das Ansinnen, ehrenamtlich mitzuhelfen, als Zumutung und Unverschämtheit - schließlich zahle man ja Steuern und Mitgliedsbeiträge. Gewiss: Diese passive Konsumentenhaltung gibt es, aber sie ist als Erklärung für die Krise des bürgerschaftlichen Engagements zu schmal. Es gibt ja zugleich die Erfahrung, dass sich für das "kannst bitte du mal kurz" fast immer jemand findet - dass also die Leute in Bürgerinitiativen, in Projekten von überschaubarer Dauer durchaus gern mitmachen.

Aber die Scheu vor Aufgaben, die Kontinuität erfordern, ist sehr gewachsen. Das hat nicht einfach mit der Degeneration von Empathie und Verantwortungsbewusstsein zu tun, sondern mit einer grundlegenden Veränderung der Art zu arbeiten, zu leben und zu wirtschaften. Vor etwa einer Generation hat die Verdichtung der Lebens- und Arbeitswelt begonnen; der Druck, flexibel zu sein, hat zugenommen; der Doppelverdienerhaushalt ist der Normalfall geworden. Die Menschen sind schon froh, wenn sie Beruf und Familie einigermaßen unter einen Hut bekommen. Es ist daher viel schwieriger geworden, verlässlich Zeit für Ehrenämter aufzubringen; man macht sich womöglich sogar verdächtig, "wohl zu viel Zeit zu haben", wenn man sich "so etwas" erlauben kann.

Die Erwerbstätigkeit der Frauen war und ist ein emanzipatorischer Segen. Aber es ist nicht unbedingt ein gesellschaftlicher Segen, dass die bisherige maskuline Art, in Vollzeit und unter Ausschluss von Familienarbeit zu arbeiten, einfach dupliziert und auf Frauen abgepaust worden ist. Der Markt hat sich die Emanzipation auf diese Weise zunutze gemacht. Viele Familien brauchen inzwischen den Doppelverdienst, um wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Die familiäre Sorgearbeit muss ja, wenn beide Ehepartner arbeiten, mit Hilfskräften erledigt und bezahlt werden; oder aber die Frau zieht mit Teilzeitarbeit wieder den Kürzeren, denn irgendwer muss die Familienarbeit ja machen.

Die Spielregeln des Marktes mit ihren alten Vorzeichen für die Erwerbsarbeit wurden also einfach fortgeschrieben und auf Frauen ausgedehnt. Sie sind damit angeblich "geschlechtergerecht" geworden. Wirklich? Richtig und gut für alle Geschlechter wäre es, sie würden menschengerecht werden - zum Beispiel durch eine erhebliche Reduzierung der Arbeitszeiten für alle. Dann bliebe den arbeitenden männlichen und weiblichen und diversen Menschen wieder Zeit für die soziale Sorge - für die Sorge in der Familie und auch für das Ehrenamt in der Gemeinschaft.

Kurz: Unserer Art des Arbeitens und des Wirtschaftens fehlt die soziale und fürsorgliche Dimension. Die Krise des Ehrenamts ist ein Indiz.

© SZ vom 14.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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