Ehe für alle:Warum Merkel plötzlich nicht mehr mauert

Es hat ewig gedauert und geht plötzlich ganz schnell: die Ehe für alle wird kommen. Das ist überfällig - und knallhartem Kalkül geschuldet.

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Der Wahlkampf kennt keine Überraschungen? Seit Montagabend ist diese These Unsinn. Ausgerechnet in diesem Jahr gibt es ein ganz besonderes Ereignis: eine Koalitionsvereinbarung vor dem Wahltag. Und die wird auch noch von Parteien beschlossen, die am Ende womöglich gar nicht gemeinsam regieren.

Dass nach den Grünen, der FDP und der SPD am Montagabend auch die CDU-Vorsitzende Angela Merkel den jahrzehntelangen Streit über die Ehe für alle abgeräumt hat, ist nichts anderes als eine Sensation. Und es ist in Zeiten, in denen in anderen Ländern Ausgrenzung, Neid und Aggression regieren, die richtige Antwort.

Dieser Beschluss nimmt das Grundgesetz und den Grundsatz, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, endlich ernst. Er belohnt den Wunsch, für einen anderen Menschen Verantwortung zu übernehmen. Und er ist kein Anschlag auf die Familie, auch wenn Gegner der Öffnung der Ehe für Homosexuelle es immer behauptet haben und wohl auch in Zukunft behaupten werden.

Anders als diese Attacken es suggerieren, geht es nicht um eine Schwächung, sondern um eine Aufwertung der Familie. Sie behält alle Rechte und Pflichten - es werden nur noch mehr Familien dazukommen. Familien mit homosexuellen Eltern.

Damit stellt sich die Politik endlich auch gegen die Behauptung, Kindern in klassischen Familien mit einem Vater und einer Mutter würde es prinzipiell besser gehen. Wer genau hinsieht, weiß längst, dass häusliche Gewalt und Gewalt gegen Kinder auch vor diesem Modell nie haltgemacht haben.

Es ist wie so oft im Leben: Es kommt auf die einzelnen Menschen an, ob es ihren Kindern wirklich gut geht. Ob diese geliebt, ernst genommen und behütet werden. Es hängt von den Eltern ab, ganz egal, in welcher Konstellation sie leben - und in der Unterstützung von Freunden, Verwandten, Lehrern, Ärzten, die gebraucht werden, wenn etwas schiefgeht. Mit der Ehe für alle hat das in Wahrheit nichts zu tun.

Ein kleiner Triumph für die Grünen

Politisch ist die Entscheidung ein Großereignis - jedenfalls dann, wenn alle, die es jetzt ankündigen, ihre neue Offenheit, ja ihr Versprechen, auch tatsächlich ernst meinen.

Für die Grünen ist das ein kleiner Triumph in schwierigen Zeiten. Diesen Triumph haben sie ausgerechnet einem scheidenden Parlamentarier zu verdanken. Der Kölner Bundestagsabgeordnete Volker Beck war es, der auf dem jüngsten Parteitag vor zehn Tagen einen Beschluss erzwang, in dem die Partei jede Koalitionsvereinbarung unter den Vorbehalt stellte, dass auch die Ehe für alle Bestandteil sein müsse. Die Parteispitze hatte nicht wirklich viel dagegen. Aber sie hatte Angst vor dem Begriff der "roten Linie". Als der Parteitag trotzdem Becks Forderung folgte, freute sich der Kölner diebisch und die Parteispitze übte sich in guter Miene.

Zehn Tage später haben die Grünen, man muss das so sagen, diesen Kampf gewonnen. Erst begriff FDP-Chef Christian Lindner, dass der gleiche Kurs seiner Partei gut zu Gesicht stünde. Also sagte er in einem Interview knapp eine Woche nach den Grünen, dass er das mit der "roten Linie" ganz genauso sehe.

Die Sozialdemokraten und ihr Frontmann Martin Schulz schlossen sich an; sie brauchen einfach alle Koalitionsoptionen, die sich ihnen bieten. Außerdem mögen sie es, die Kanzlerin-CDU mal zu isolieren. Und genau das dürfte Merkel dazu bewogen haben, ihre Position in dieser Frage zu öffnen. Zu öffnen deshalb, weil sie eine elegante Kurve gezogen hat und nicht einen knallharten Kurswechsel. Wie zuvor parteiintern besprochen, hat sie sich einer Linie angeschlossen, die helfen soll, "elegant durch den Wahlkampf zu kommen".

Damit gemeint ist der Satz, sie werde eine Abstimmung im Parlament als Gewissensentscheidung akzeptieren. Das heißt: Keine Abgeordnete und kein Abgeordneter werden sich bei der Neufassung der gesetzlichen Regelung an eine Parteilinie halten müssen.

Das passiert sonst vor allem dann, wenn es um medizinisch-ethische Fragen geht, zum Beispiel beim Einsatz von Embryonen in der Forschung. Es nun anzuwenden, ist aber keine abseitige Entscheidung. Es ist im Gegenteil überfällig, diesen Weg einzuschlagen. Er lässt nämlich sprichwörtlich allen die Freiheit, ihre Position zu ändern oder zu behalten. Also auch jenen, die damit bis heute ein Problem haben.

Aus diesem Grund ist auch nicht vorneweg entschieden, wie die Mehrheitsverhältnisse bei einer Abstimmung tatsächlich aussehen werden. Beim heutigen Stand hätte eine endgültige Gleichstellung homosexueller Paare im Bundestag wohl eine Mehrheit. Ob das auch für eine Zweidrittelmehrheit gilt, die bei einer Verfassungsänderung nötig würde, ist dagegen nicht ganz sicher. Ob die Verfassung überhaupt geändert werden müsste, darüber gehen die Meinungen der Experten ohnehin auseinander.

Das bedeutet: Der Beschluss ist gefasst, der Weg ist offen. Und weil die Kanzlerin ihre Linie am Dienstagnachmittag in der Fraktionssitzung noch einmal bestätigte, könnte es noch in dieser Woche im Bundestag zu einer Abstimmung kommen. Zumal SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ebendies am Vormittag gefordert hatte. So, wie sich die Dinge in den vergangenen Tagen entwickelt haben, erscheint in der Tat nun alles möglich.

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