Süddeutsche Zeitung

EGMR:Gut gemeint, schlecht ausgeführt

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Eine Türkeireise demontiert den Ruf des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Von Wolfgang Janisch, Straßburg

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist an Krisen aller Art gewöhnt. Der drückenden Verfahrenslast ist er mit Reformen begegnet, die Abspaltungstendenzen einzelner Staaten hat er ausgesessen, die zeitweilige Finanzkrise, als Russland seine Zahlungen an den Europarat stoppte, ist überstanden. Dass Urteile aus Straßburg oft nur unzureichend umgesetzt werden, ist letztlich eine Dauerkrise. Dennoch tut der EGMR beharrlich seine Arbeit, schafft neue Prozeduren und schärft seine Rechtsprechung, immer im Dienste der Menschenrechte. Bisher erntete er dafür viel Anerkennung.

Doch nun hat den Gerichtshof eine Krise erwischt, die er mit bemerkenswertem Ungeschick selbst ausgelöst hat. Der frisch gekürte Präsident Róbert Ragnar Spanó reiste Anfang des Monats in die Türkei und ließ sich mit einem Ehrendoktor der Universität Istanbul auszeichnen. Also dort, wo das Regime nach dem Putschversuch für die Entlassung von mehr als 200 Mitarbeitern gesorgt hatte. Ein Angebot für ein Treffen der Ehefrau des immer noch inhaftierten Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş schlug er aus. Dafür ließ der Isländer sich mit Recep Tayyip Erdoğan fotografieren. Wer die Gesetzmäßigkeit des öffentlichen Skandals kennt, der weiß, was folgte: ein Shitstorm von Menschenrechtlern und Oppositionellen.

Die Kritik hat er sich redlich verdient. Das Timing war schlecht, das Setting miserabel. Mit einem Präsidenten zu posieren, der nach dem Putschversuch für die willkürliche Verhaftung und Entlassung vieler Tausend Menschen gesorgt hat, war keine gute Idee - das hat Spanó verstanden: "Die Kritik, die wir erfahren haben, ist fair", sagt er der Süddeutschen Zeitung.

Seit Jahrzehnten fahren Präsidenten hierhin und dorthin und nehmen Ehrungen an

Dabei muss man hinzufügen: Wie vermutlich alle Shitstorms war auch dieser ungerecht. Klar, das öffentliche Bild war verheerend, weil es Erdoğan eine Prise Legitimität verlieh. Richtig ist aber auch, dass der Gerichtshof in den Post-Putsch-Jahren die Menschenrechtsverstöße der Türkei mit sehr klaren Worten benannt hat. 2018 entschied er im Fall zweier Journalisten, der "öffentliche Notstand" dürfe nicht als Vorwand zur Einschränkung der politischen Debatte benutzt werden. Im selben Jahr forderte er die Entlassung von Demirtaş aus der Untersuchungshaft und warf der Türkei vor, "den Pluralismus zu ersticken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken". Ende 2019 verfügte er die sofortige Entlassung des Kulturmäzens Osman Kavala; mit der Haft, so schrieb das Gericht, wolle das Regime den Mann zum Schweigen bringen. Für einen Gerichtshof, der sich sonst mit der nüchternen Feststellung begnügt, ein Staat habe das Recht auf Freiheit oder auf ein faires Verfahren verletzt, war das eine deutliche Sprache. Und der Kammerpräsident, der damals verantwortlich für diese Urteile war, heißt Róbert Ragnar Spanó.

Um zu begreifen, wie einer, der aus Sicht von Menschenrechtsgruppen zu den Guten gehören müsste, auf so einen Trip geraten ist, muss man in die Geschichte des Gerichtshofs schauen. Seit Jahrzehnten fahren Präsidenten hierhin und dorthin und nehmen Ehrungen an. Luzius Wildhaber hat den Stern von Rumänien und einen Litauischen Verdienstorden, Jean-Paul Costa schmückt sich mit einem tschechischen Ehrendoktor und dem Großkreuz des spanischen Verdienstordens, Dean Spielman ist Doktor honoris causa der staatlichen Universität von Eriwan. Der Ehrendoktor aus Istanbul dürfte freilich die vorerst letzte Auszeichnung dieser Art gewesen sein. "Wir haben entschieden, dass wir unsere Praxis vollständig überprüfen", sagt Spanó. Ehrungen, Regierungsmedaillen, alles komme auf den Prüfstand.

Was Spanó indes nicht aufgeben will, ist der Dialog mit Staaten wie der Türkei. Der Gerichtshof habe auch mit dem türkischen Verfassungsgericht regelmäßige Kontakte. "Wir sollten die direkte Begegnung beibehalten, weil ich davon überzeugt bin, dass dies auf lange Sicht Wirkung zeigt." Denn auch in autoritären Regimen sind immer noch ein paar Juristen übrig, die nichts anderes wollen als Richter sein, nach Recht und Gesetz. Sie zu stützen, diesem Zweck sollte letztlich auch der missglückte Türkeibesuch dienen. Spanó hoffte, er könne kraft seiner moralischen Autorität als federführender Richter bei den wiederholten Urteilen gegen die Türkei "eine kraftvolle Botschaft von richterlicher Unabhängigkeit formulieren".

Drei Reden hielt er, eine davon vor türkischen Richtern in Ankara. Er erinnerte an die jüngste Verurteilung der Türkei wegen Inhaftierung eines Verfassungsrichters, er mahnte das dortige Verfassungsgericht, die Europäische Menschenrechtskonvention zu befolgen, er deklamierte, dass niemand über dem Recht stehe, auch nicht, wer an der Macht sei. Man kann diese Kritik deutlicher formulieren, schärfer. Aber misszuverstehen war sie nicht. Allerdings dürfte diese Form der "Menschenrechtsdiplomatie" in Zukunft sehr viel zurückhaltender ausfallen. Autokratische Regime schmücken sich gern mit Besuchern, die rechtsstaatlichen Glanz mitbringen - und sorgen für Bilder, die am Ende jedes noch so kritische Wort überlagern. Die schwierigen Staaten zu umschiffen, wäre aber auch keine Lösung. "Der Gerichtshof darf bei Reden oder Besuchen nicht zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats diskriminieren", sagt Spanó. Vermutlich wird man sich also stärker auf die Arbeitsebene beschränken.

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SZ vom 22.09.2020
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