Edward Snowdens Flucht:Thriller mit Charakterfalle

Edward Snowden Flughafen Moskau

Flughafen Hongkong: Hier begann die Flucht des Edward Snowden

Er ist noch auf der Flucht und doch bereits irgendwie ins Netz gegangen: Statt über seine Enthüllungen und die nötigen Konsequenzen diskutiert Amerika vor allem über die Flucht und die Beweggründe des Geheimdienst-Whistleblowers Edward Snowden. Etwas Besseres konnte der US-Regierung nicht passieren.

Eine Analyse von Johannes Kuhn

Der Preis von allem ist die Menge an Leben, die du dafür eintauschst - sofort oder später. Die Worte des amerikanischen Philosophen Henry David Thoreau dürften Edward Snowden nicht bewusst gewesen sein, ihre Konsequenzen schon.

Ein Whistleblower entscheidet sich, gegen die gelebten Werte des Systems zu handeln, in dem er agiert. Der Preis ist Entfremdung, die Gefahr der Verfolgung, in vielen Fällen das Gefühl von Schuld. Eröffnet ein Whistleblower seine Identität der Welt, begibt er sich in die Hände der Öffentlichkeit. Der Preis: ein absoluter Kontrollverlust über die Wahrnehmung der eigenen Person. Wenn man so will, hat der Geheimdienst-Enthüller Edward Snowden bereits jetzt eine Menge Leben eintauschen müssen.

So spielt sich seit der Ausreise des 30-Jährigen aus Hongkong nicht nur ein verfilmungswürdiger Thriller mit diplomatischen Verwicklungen ab, auch hat sich der Fokus des Prism-Skandals verändert. Statt der gigantischen, in ihrem historischen Ausmaß kaum zu überschätzenden Zugriffsmöglichkeiten US-amerikanischer und britischer Geheimdienste auf die digitale Kommunikation der Welt steht nun der Charakter des Mannes im Blickpunkt, der diese enthüllt hat.

Dezente Charakter-Attentate der Regierung

Das ist vor allem im Sinne der US-Regierung, die sich in öffentlichen oder anonym an die Medien gestreuten Statements längst daran gemacht hat, Zweifel am Charakter des Enthüllers zu schüren: Die Fluchtroute über China und Russland, die möglichen Ziele Ecuador oder Venezuela: all diese lege nahe, dass - Zitat eines nicht genannten Regierungsmitarbeiters - Snowdens "wahre Motive darin bestehen, die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten zu verletzen".

Der frühere NSA- und CIA-Chef Michael Hayden erklärte Snowden in Hobbypsychologen-Manier zum "Narzissten" - ihn treibe also vor allem seine übertriebene Eitelkeit an. Der angesehene US-Journalist John Cassidy vom New Yorker spricht längst von einer Strategie der Dämonisierung Snowdens und dem Versuch der Delegitimation seiner Anliegen.

Weil der Whistleblower seit Tagen abgetaucht ist, füllen Gerüchte das Vakuum. Mit Sicherheit habe China die Informationen von Snowdens Laptops kopiert, mutmaßen nicht genannte westliche Sicherheitsexperten in der New York Times. Ein russischer "Geheimdienstveteran" ist sich "absolut sicher", dass der Whistleblower am Moskauer Flughafen von russischen Agenten verhört wurde.

Egal wie spekulativ, egal wie unbewiesen all dies bislang ist: Aus dem Whistleblower machen solche Einschätzungen bereits jetzt einen Geheimnisverräter. Einen absichtsvollen, oder, fast noch schlimmer: einen Naivling, der die Tragweite seiner Enthüllungen unterschätzt hat. Zumindest legen dies die Ferndiagnosen einzelner Mitglieder des Kommentariats nahe. Snowden als junger Mann, der "sofern er nicht nur publicitygeil ist, mindestens naiv und unbedacht" handelt. Der "zwischen der realen Welt und der Phantasiewelt der Computerspiele" hin und her driftete.

Die Motive rücken in den Mittelpunkt

Mit der Preisgabe seiner Identität hat Snowden seine Botschaft an ihren Überbringer geknüpft. Was ihn schützen sollte, hat ihn auf anderer Ebene angreifbar gemacht: Die Deutungshoheit über einen Menschen ist leichter zu erlangen als über Fakten. Die Frage nach den Motiven eines Whistleblowers ist legitim, aber eigentlich zweitrangig. Nun wird sie, ganz im Sinne derer, die enthüllt wurden, zur Hauptsache.

Wir fragen "Wieso flieht Snowden in Länder mit fragwürdigem Demokratieverständnis?" statt "Welchen konkreten Schaden kann das Justizministerium benennen, um von Spionage zu sprechen?" oder "Funktionieren die demokratischen Mechanismen bei der Kontrolle der Geheimdienste noch?".

Wir fragen "Warum nimmt Deutschland Snowden nicht auf?" statt "Was unternimmt die Bundesregierung substantiell wegen Prism und Tempora und wie sieht es mit der demokratischen Kontrolle des Bundesnachrichtendiensts und Co. aus?"

Wir fragen "Was bringt einen Geheimdienst-Mitarbeiter dazu, sich mit dem Staat anzulegen?" statt "Wieso helfen so viele Menschen Staaten bei Tätigkeiten, die offensichtlich jedes zivilisierte Maß verloren haben und jenseits demokratischer Kontrolle liegen?"

Die Fragen mögen falsch sein, doch die Antworten sind inzwischen leider wichtig: Denn die öffentliche Bewertung Edward Snowdens wird maßgeblich dazu beitragen, welchen Ruf Whistleblower aus den Reihen von Geheimdienst und Regierung künftig genießen. Das Urteil "Held oder Verräter" wird in den USA und weit darüber hinaus Auswirkungen auf jeden einzelnen Mitarbeiter öffentlicher Stellen haben, wenn er sich mit dem Gedanken trägt, etwas gegen den Willen seiner Vorgesetzten zu veröffentlichen.

Die Neudefinition des Whistleblowers

Dass dies nicht leichter wird, deutet sich bereits an: Die Journalisten des McClatchy-Verlags enthüllten vor einigen Tagen ein "Insider Threat Program" der US-Regierung. Seit 2011 sind Regierungsmitarbeiter demnach angewiesen, mögliche Whistleblower bereits im Voraus zu identifizieren und die Weitergabe von Informationen hart zu bestrafen. Ganz nebenbei wird die Rolle des Whistleblowers uminterpretiert: Der geht, so der Wille der US-Regierung, mit seinen Hinweisen nicht mehr an die Öffentlichkeit, sondern spricht intern Dinge an. Alles andere, das zeigen die acht Anklagen gegen Regierungsmitarbeiter wegen Spionage, ist Verrat.

Da verwundert es wenig, dass die bislang einzige Konsequenz der Obama-Regierung aus den Prism-Enthüllungen das Verhindern weiterer Leaks betrifft: Bei der NSA sollen Administratoren künftig nur noch unter dem Vier-Augen-Prinzip auf Systeme zugreifen können.

Die technischen und psychologischen Vorkehrungen sind getroffen, und doch wäre keine Maßnahme im Kampf gegen Whistleblower so wichtig für die US-Geheimdienste wie die Zustimmung der Öffentlichkeit zu dieser Aussage: Edward Snowden ist kein Held, sondern ein Verräter.

Sie sind auf dem besten Weg, ihr Ziel zu erreichen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: