East Palestine war bis vor Kurzem nicht viel mehr als ein abgelegener Ort in Ohio an der Grenze zu Pennsylvania. Gewisse Bedeutung hatte die Gemeinde mit ihren offiziell 4718 Einwohnern, abgesehen von früheren Industriebetrieben und gegenwärtigen Obstgärten, nur deshalb, weil sie an der Güterstrecke der Norfolk Southern Railway liegt. Am Abend des 3. Februar waren hier 38 Waggons entgleist, elf davon mit giftigen Chemikalien zur Herstellung von PVC. Das Zugunglück hat East Palestine in den Schauplatz einer möglichen Umweltkatastrophe verwandelt - zu einem amerikanisches Wahlkampfthema.
Als Ursache des Unglücks gilt ein überhitztes Radlager, offenbar waren dadurch noch vor der Notbremsung Plastikpellets in Brand geraten, danach gingen weitere Teile der Ladung in Flammen auf. Verletzte gab es keine, doch zwei Tage später wurden Anwohner vorübergehend evakuiert, weil Vinylchlorid aus umgestürzten Kesselwagen lief. Aus Angst vor einer Explosion ließ die Feuerwehr die Flüssigkeit kontrolliert abbrennen. Pechschwarzer Rauch stieg auf, Chlorwasserstoff und Phosgen entwichen, beides hochgradig gesundheitsschädlich.
Viele sehen sich als Hinterwäldler abgestempelt
Einige Menschen in der Umgebung klagten über Übelkeit und Kopfschmerzen, und viele machen sich Sorgen, dass ganze Reviere verseucht sein könnten, von Zehntausenden toten Fischen und Amphibien wird berichtet. Eine Lebensmittelkette nahm in mehreren Bundesstaaten Wasserflaschen aus den Regalen, die in der betroffenen Umgebung abgefüllt wurden. Die Bedenken reichen bis nach Michigan und sogar Texas, abgetragene Erde der Unfallstelle wurde dort auf Deponien entsorgt.
Die US-Umweltschutzbehörde EPA versichert zwar, das Trinkwasser und die Luft in East Palestine seien sauber, ihr Chef Michael Regan trank demonstrativ Leitungswasser. Zahlreiche Bewohner jedoch glauben der Regierung von Joe Biden kein Wort. 71,5 Prozent der Wähler in diesem Wahlkreis stimmten 2020 für den Republikaner Donald Trump und nur knapp 27 Prozent für den Demokraten Biden, bei den Midterms vor ein paar Monaten fiel das Ergebnis für die Parteien ähnlich aus. Grob gesagt herrscht bei den Leuten hier die Meinung vor, dass sie von den Funktionären da drüben in Washington sowieso für Hinterwäldler gehalten werden. Und die Republikaner versuchen diesen hier weitverbreiteten Eindruck zu verstärken: dass East Palestine ein kleiner Ort in einem konservativen Bundesstaat ist, der jenseits der überheblichen Elite ums Überleben zu kämpfen hat.
Die Demokraten verweisen im Hinblick auf das Zug-Unglück darauf, dass unter Barack Obama bis 2023 elektronisch kontrollierte Bremssysteme für riskante Transporte beschlossen worden waren, ehe Trump sie abschaffte. Wobei schärfere Vorschriften diesmal wohl wenig genützt hätten, da die Fracht offenbar nicht als gefährlich eingestuft worden war.
"Ihr seid nicht vergessen", rief Donald Trump
Biden war nach seinem Überraschungsbesuch in Kiew am vergangenen Sonntag und seiner weltweit beachteten Rede tags darauf in Warschau noch auf der Rückreise aus Polen, da trat Trump am Mittwoch schon in East Palestine auf. Er hatte zwei Parteifreunde dabei, den Senator J.D. Vance und den Abgeordneten Bill Johnson, er verteilte Wasserflaschen und Make-America-Great-Again-Käppis. "Ihr seid nicht vergessen", rief Trump und warf der Biden-Administration "Gleichgültigkeit und Verrat" vor. Genüsslich verkündete er, er warte darauf, wann der Präsident von seiner Reise zurückkomme.
Das soll natürlich so klingen, als kümmere sich der Mann im Weißen Haus mehr um Ukrainer und Polen als um Amerikaner. Biden wurde dann nach seiner Rückkehr und einem Ausflug am Freitag nach Virginia von Reportern nicht nur gefragt, ob er chinesische Waffenlieferungen nach Russland befürchte ("bisher keine Anzeichen dafür") und mit Selenskij über Kampfjets F-16 gesprochen habe ("private Diskussion"), sondern auch, ob er denn nach East Palestine reisen werde. Bisher habe er das nicht vor, sagte der Präsident. Seine Leute aber seien zwei Stunden nach der Havarie dort gewesen, er habe mit allen wichtigen Personen in Ohio und Pennsylvania gesprochen und die Sache sehr genau im Blick. "Wir tun alles, was wir können."
Sein Transportminister Pete Buttigieg immerhin wurde am Donnerstag im Krisengebiet vorstellig - nachdem er vorher bedauert hatte, sich nicht früher dazu geäußert zu haben. Die Republikaner werfen ihm Inkompetenz und Apathie vor, sie haben sich auf den demokratischen Shooting-Star eingeschossen. Buttigieg wiederum verlangt, die von Trump gekippten Bestimmungen für Güterzüge erneut einzuführen, und er legt sich mit der in diesem Fall wohl verantwortlichen Norfolk Southern Railway an. Die Bahnfirma soll an der Unglücksstelle aufräumen und für die Schäden aufkommen.
"Ich kann Ihnen so viel sagen", sagte dieser Tage Jennifer Homendy, Vorsitzende der Transport-Sicherheitsbehörde. "Ich verstehe nicht, warum die Sache so politisch geworden ist. Dies ist eine Gemeinschaft, die leidet." Joe Biden hat seine Experten unterdessen aufgefordert, bei den Betroffenen in East Palestine von Haus zu Haus zu gehen.