Düsseldorf (dpa/lnw) - Schule ohne Pflicht, ohne Sitzenbleiben, aber auch ohne sichere Hygienestandards in der Corona-Krise - so sieht es jedenfalls die Opposition in Nordrhein-Westfalen. Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) erklärte am Donnerstag im Düsseldorfer Landtag, mit welchen schulrechtlichen Änderungen NRW die Rückkehr in einen neuen Schulalltag meistern will.
SCHULÖFFNUNG:Von Montag bis Mittwoch kommender Woche öffnen die weiterführenden Schulen in NRW zunächst nur für Lehrkräfte, weiteres Personal sowie Schulträger. Sie sollen in drei Tagen die organisatorischen Bedingungen für die Wiederaufnahme des Schulbetriebs schaffen.
PRÜFLINGE: Ab Donnerstag können Schüler, die vor Abschlussprüfungen stehen, wieder zur Schule gehen - müssen es aber nicht. Die Schulen sollen gezielte Angebote in den Prüfungsfächern machen. Es gehe dabei nicht um klassischen Unterricht nach Stundenplan, erklärte Gebauer. Betroffen seien 148 000 angehende Abiturienten sowie Schüler, die vor mittleren Abschlüssen in den Jahrgangsstufen 10, 12 und 13 stehen, die dann freiwillig kommen könnten. Angesichts von regulär rund 2,5 Millionen Schülern in NRW seien - auch unter den verschärften corona-bedingten Sicherheitsvorschriften - genügend Räume und Lehrerkapazitäten vorhanden, sagte Schulstaatssekretär Mathias Richter.
FREIWILLIGKEIT: Die oppositionellen Grünen kritisierten die Freiwilligkeit des Schulbesuchs für die Prüflinge. Es sei „verantwortungslos“, die Abwägung zwischen Infektionsrisiko und Fürsorge für die Gesundheit der eigenen Familie sowie einer angemessenen Prüfungsvorbereitung auf die Schüler abzuwälzen, sagte die Bildungsexpertin der Fraktion, Sigrid Beer. Auch die SPD findet das Konzept „nicht schlüssig“. Gebauer sieht darin hingegen ein „faires Angebot“ vor allem für Schüler, die aus schwierigen Situationen kämen, um sich besser vorbereiten zu können.
ABI OHNE PRÜFUNG:Für den absoluten Notfall werde NRW auch schulrechtliche Vorkehrungen für ein Abitur 2020 ohne Abschlussprüfungen treffen, sagte Gebauer. Ein Durchschnittsabitur unter Berücksichtigung der Vornoten liefere aber keine vergleichbare Sicherheit bei der Anerkennung und verschaffe Nachteile gegenüber einem regulär erreichten Abitur in anderen Bundesländern.
KLASSE 10: Auf die zentrale Prüfung nach der zehnten Klasse (ZP 10) wird in diesem Jahr in NRW an Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen verzichtet. Stattdessen sollen die Lehrkräfte der Schulen eine Klassenarbeit schreiben lassen, die stärker auf den tatsächlich erteilten Unterricht Bezug nimmt. Die Fristen können verschoben werden. Auch auf das sonst übliche Abschlussverfahren mit Vornoten und Abweichungsprüfungen wird ausnahmsweise verzichtet.
GRUNDSCHULEN: Grundschulen sollen ab dem 4. Mai schrittweise wieder den Unterricht aufnehmen, falls die Entwicklung der Infektionszahlen das zulässt - zunächst nur mit den Viertklässlern. Das Notbetreuungsprogramm für die Klassen eins bis sechs werde aufrecht erhalten und gegebenenfalls um weitere Bedarfsgruppen erweitert, sagte Gebauer. Derzeit werde die Notbetreuung nur für etwa ein Prozent der Schülerschaft in Anspruch genommen, sagte Staatssekretär Richter.
WEITERE JAHRGÄNGE: Am 30. April wollen die Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin beraten, ob und wann der Unterricht schrittweise auf weitere Klassen ausgedehnt werden kann.
SITZENBLEIBEN: Im laufenden Schuljahr sollen Schüler grundsätzlich in die nächst höhere Jahrgangsstufe versetzt werden.
ERPROBUNGSSTUFE: Auch nach Ende der Erprobungsstufe nach Klasse 6 soll niemand in eine andere Schulform wechseln müssen. Eltern sollen allerdings die Möglichkeit haben, ihr Kind freiwillig eine Ehrenrunde drehen zu lassen. „Eine solche freiwillige Wiederholung soll dann aber nicht als Sitzenbleiben gewertet werden“, so Gebauer.
BEWERTUNGEN:Gute Leistungen aus der Zeit des Unterrichts auf Distanz können in die Noten für „Sonstige Mitarbeit“ einfließen, schlechte werden nicht in die Zeugnisnote einbezogen.
KRISEN-MANAGEMENT:Es wird Schülerinnen und Schüler geben, die Erfahrungen von Isolation, innerfamiliären Konflikten oder auch Gewalt mit in die Schule bringen, sagte Gebauer. Schulgemeinschaften hätten auch den Tod von Lehrkräften oder Familienangehörigen zu verkraften. Daher werde es für die Schulen Angebote geben - etwa Beispielplanungen für den ersten Schultag, einen Leitfaden, Videoclips mit Ratschlägen von Schulpsychologen sowie „Tipps, um sicher, stark und gesund durchs Abitur zu kommen“. Derzeit sind nach Angaben der Ministerin 364 Schulpsychologen in NRW im Dienst.
LEHRER: „Unterricht erteilen soll nur, wer nicht zu einer definierten Risikogruppe gehört“, unterstrich Gebauer. Dazu zählten vor allem ältere und vorerkrankte Lehrkräfte. Die genaue Definition werde in den kommenden Tagen bundesweit einheitlich erarbeitet. Prüfungs- und Einstellungsverfahren für angehende Lehrer sollen so angepasst werden, „dass für die Betroffenen nach Möglichkeit keine Nachteile für ihr berufliches Fortkommen aus der Corona-Krise entstehen“.
HEINSBERG: In den sieben Gymnasien und vier Gesamtschulen des anfangs am stärksten vom Coronavirus betroffenen Kreises Heinsberg fehle den Schülern besonders viel Unterricht, stellte die Ministerin fest. Hier seien die Schulen bereits unmittelbar nach Karneval geschlossen worden - knapp drei Wochen vor der landesweiten Maßnahme. Deshalb solle es hier „individuelle Lösungen“ geben mit späteren Fristen für Klausuren und Ausnahme-Prüfungszulassungen „unter Vorbehalt“.
LÄNDERVERGLEICH:NRW habe für die Verständigung auf ein bundesweit einheitliches Vorgehen im Schulbereich „eine ausschlaggebende und auch eine einigende Rolle gespielt“, versicherte Gebauer. Den Vorwurf der SPD-Opposition, dass NRW ausschere, wies sie zurück. Berlin und Brandenburg starteten bereits am 20. April mit ihren Abiturprüfungen, Schleswig-Holstein und Hamburg am 21. April, Bremen und Sachsen am 22. April - und NRW erst am 12. Mai, sagte sie.
OPPOSITION:SPD und Grüne sehen zahlreiche Fragen zu Hygiene-Standards und der Organisation von Lehrkräften, Räumen, Sicherheitsabständen und dem Schulbusbetrieb unbeantwortet. „Der Infektionsschutz ist nicht gesichert“, sagte die Grünen-Abgeordnete Beer. „Das ist fahrlässig, was Sie vorgelegt haben.“ SPD-Fraktionsvize Jochen Ott sagte: „Das war eine Verkündigung mit vielen offenen Fragen.“ Gebauer habe die Unsicherheit erhöht. Der AfD-Abgeordnete Helmut Seifen zeigte sich von den „tiefgründigen Überlegungen“ der Regierung dagegen weitestgehend überzeugt. Der ehemalige Gymnasialdirektor warf der SPD vor, sie habe sich schlicht von einigen wenigen Schülern, die keine Prüfungen machen wollten, „auf den Kriegspfad“ schicken lassen.