Süddeutsche Zeitung

Polen:Ausnahmezustand mit Hintergedanken?

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Präsident Andrzej Duda greift zu drastischen Mitteln, weil er um die Sicherheit der Grenze zu Belarus fürchtet. Oppositionelle sehen darin ein politisches Manöver.

Von Florian Hassel, Warschau

Polens Präsident Andrzej Duda hatte am ersten Septembertag volles Programm: im Morgengrauen Gedenken an den deutschen Überfall zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, danach der landesweite Schulbeginn und ein Krisentreffen mit Verteidigungs-, Innen- und Außenminister: Denn Duda soll die Verhängung des Ausnahmezustandes in 183 Grenzorten an Polens Grenze zu Belarus unterschreiben.

Duda ließ keinen Zweifel daran, dass er dies tun will. In der Gedenkrede bekräftigte er: "Wir lassen es nicht zu, dass unsere Grenzen verletzt werden." Schließlich habe sich Polen auch "gegenüber unseren europäischen Partnern zum Schutz der Grenze der Europäischen Union" verpflichtet - die Grenze zu Belarus ist eine EU-Außengrenze. Laut Ryszard Terlecki, im Parlament Fraktionschef der Regierungspartei PiS, wird der Sejm am Freitag, spätestens Montag über den dann verhängten Ausnahmezustand beraten.

Der Sejm könnte ihn aufheben, die Regierung hat nach dem Austritt eines Koalitionspartners keine eigene Mehrheit mehr. Doch auch die rechtsnationalistische Konföderation begrüßt den Ausnahmezustand, zusammen mit deren elf Abgeordneten hat die PiS eine klare Mehrheit im Parlament.

Kommt der Ausnahmezustand, kann der Zugang zu den Grenzorten Nichteinwohnern verboten werden, es können Telefongespräche abgehört, Zensur verordnet, Treffen und Kundgebungen verboten werden. Es wäre ein Tabubruch: Noch nie wurde im demokratischen Polen der Ausnahmezustand verhängt, selbst auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie nicht, "als die Menschen starben und die Rettungswagen in kilometerlangen Warteschlangen standen", sagte Ex-Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak von der Oppositionspartei Bürgerplattform (KO). Dies sei "eine Propagandaentscheidung", aus der "politisches Kapital geschlagen werden" soll.

Flüchtlinge in der Falle

Denn Polens Regierende sind in der Krise: Die PiS wird von zahlreichen Skandalen erschüttert und hat in Umfragen stark verloren. Wegen des Abbaus des Rechtsstaates beschäftigt sie die EU-Kommission und den Gerichtshof der Europäischen Union. Ein von der US-Regierung scharf kritisiertes geplantes Mediengesetz soll ermöglichen, vom US-Konzern Discovery die Kontrolle über den Fernsehsender TVN24 zu übernehmen, eine der wichtigsten noch unabhängigen Informationsquellen. Der Parlamentarier Marek Sawicki von der oppositionellen Bauernpartei sagte, der Ausnahmezustand und Behauptungen über Polens angebliche gefährdete Sicherheit seien "politisches Theater", mit dem die Regierung "von ihren ernsthaften Problemen ablenken will".

Regierungspolitiker führen zur Rechtfertigung des Ausnahmezustandes "Bedrohung der Sicherheit der Staatsbürger und der öffentlichen Ordnung", hybride Kriegsführung durch den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko und die bevorstehende russisch-belarussische Militärübung Zapad-2021 an. Lukaschenko lässt Flüchtlinge aus dem Irak, Afghanistan und anderen Ländern nach Minsk fliegen und sie an die bisher meist unbefestigten Grenzen zu Litauen oder Polen bringen.

Parlamentarier Sawicki erinnerte daran, dass die russisch-belarussische Militärübung seit 20 Jahren jedes Jahr abgehalten werde. Auch sonst wurde im Grenzgebiet keinerlei Zwischenfall bekannt. Der Oppositionspolitiker Szymon Hołownia sagte, noch am Montag habe der Verteidigungsminister behauptet, alles sei unter Kontrolle. Sawicki zufolge wurden im August 930 Flüchtlinge in polnische Lager gebracht und konnten Asyl beantragen. Meist aber fangen Polens Grenzschützer Flüchtlinge ab und schieben sie in Push-Backs nach Belarus zurück.

Doch ein harter Kurs gegenüber Flüchtlingen ist bei vielen Polen populär. Die Regierung wolle "das Gefühl schaffen, dass wir bedroht sind und nur wir, die Regierung", diese Gefahr bekämpfen können, so Hołownia. "Sie wissen, dass sie in den Umfragen steigen, wenn sie einen Bedrohungszustand simulieren", ergänzte Dariusz Klimczak von der Bauernpartei.

Dem Verfassungsrechtler Ryszard Piotrowski zufolge soll der Ausnahmezustand zudem Menschenrechtler, Ärzte und Journalisten daran hindern, das Vorgehen im Grenzgebiet zu schildern, etwa im Grenzort Usnarz Górny. Dort sind seit Wochen 32 afghanische Flüchtlinge von Grenzschützern, Polizisten und Soldaten eingekreist, damit sie nicht die Grenze überschreiten und Asylantrag stellen.

Die offenbar mehr an der Abwehr von Flüchtlingen als an demokratischen Feinheiten interessierte EU-Kommission hält sich mit Kritik zurück. Polen sei immer noch "eine Erfolgsgeschichte" und "wohlhabender und freier" als zuvor, sagte Vizekommissionspräsidentin Vera Jourová am Dienstag bei einem Besuch in Danzig. Vor polnischen Journalisten ergänzte sie, die 32 Flüchtlinge befänden sich in einer "tragischen Falle", den Umgang mit ihnen aber solle man "besser denjenigen überlassen, die sich mit der inneren Sicherheit der Europäischen Union beschäftigen. Ich vertraue den polnischen Behörden, dass sie alles tun, was nötig ist, um die Situation zu stabilisieren", sagte sie. "Wir müssen unsere Außengrenze schützen."

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