Süddeutsche Zeitung

Indien:Eine für alle

Lesezeit: 3 min

Droupadi Murmu ist zur Präsidentin Indiens gewählt worden. Das Amt ist politisch nicht gewichtig, aber als Integrationsfigur könnte sie dem gesamten Land helfen.

Von David Pfeifer, Bangkok

Der Präsident von Indien ist ähnlich mächtig wie der deutsche, wie die Queen oder der spanische König. In dieser Position hat man politisch nichts zu entscheiden - aber man hat eine Stimme. Minister können ermahnt, Wirtschaftsbosse gerügt werden, man wird im Ausland empfangen und im Inland gehört.

Es ist also schon noch etwas Besonderes, dass in Indien eine Frau diese Position bekleidet: Droupadi Murmu. Und das nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch weil Murmu gleichzeitig Vertreterin der indigenen Bevölkerung der Santhal ist. Ihre Karriere begann als Stammesführerin.

Das unterscheidet sie beispielsweise von Indira Gandhi, die schon 1966 Premierministerin der riesigen, diversen, aber doch patriarchal und nach den Kasten strukturierten indischen Gesellschaft wurde. Aber Gandhi war die Tochter von Staatsgründer Jawaharlal Nehru, und sie gehörte einer hohen Kaste an.

Die 1958 im Dorf Baidaposi im Bezirk Mayurbhanj im Bundesstaat Orissa (heute Odisha) geborene Droupadi Murmu ist die Tochter eines Dorfvorstehers, sie ging in die Dorfschule und studierte am "Ramadevi Women's College" in der Landeshauptstadt Bhubaneswar. Ihre Karriere begann sie als Regierungsmitarbeiterin, von 1979 bis 1983 war sie als Assistentin in der Abteilung für Bewässerung und Energie tätig.

Als Gouverneurin führte sie ihr Amt auf nahbare Weise

Auf Drängen ihrer Schwiegermutter kehrte Droupadi Murmu in ihre Heimat zurück, um sich um Mann und Kinder zu kümmern, als Lehrerin zu arbeiten. Ihre wirkliche politische Karriere begann 1997, als sie bei den Kommunalwahlen in Rairangpur in den Stadtrat gewählt wurde. Von 2000 bis 2004 war sie Ministerin in der Koalitionsregierung des Bundesstaates, zunächst zuständig für Handel und Verkehr, später für Fischerei und Tierressourcen. 2006 wurde sie Präsidentin der in der indischen Verfassung als sozial und wirtschaftlich benachteiligt anerkannten Stammesgemeinschaften - für die regierende Bharatiya Janata Party (BJP), die aufgrund ihres hindu-nationalistischen Kurses sonst bei den Indigenen keinen guten Ruf hat.

Im Jahr 2009 verlor Droupadi Murmu ihren ältesten Sohn unter ungeklärten Umständen. Einige Jahre später starben auch ihr zweiter Sohn und ihr Ehemann. 2015 wurde sie zur ersten weiblichen Gouverneurin des Bundesstaates Jharkhand ernannt, was sie bis 2021 blieb. Sie führte ihr Amt auf nahbare Weise, hielt es für alle Gesellschaftsschichten offen. Bereits 2017 soll die heute 64-Jährige in der Ziehung für das hohe Amt gewesen, aber übergangen worden sein.

Diesmal wurde Droupadi Murmu gegen den in Delhi bestens vernetzten Politiker Yashwant Sinha aufgestellt, der früher ebenfalls Mitglied der BJP und Minister im Kabinett unter Atal Bihari Vajpayee war. Heute gilt er als scharfer Kritiker der Partei und des Premierministers Narendra Modi. Der indische Nachrichtensender NDTV und die Hindustan Times meldeten am Mittwochabend als erste Murmus Sieg, obwohl noch nicht alle Stimmen ausgezählt waren.

Von ihrer Nominierung erfuhr Murmu im Fernsehen, sie sei "überrascht" und "erfreut", sagte sie. "Als Stammesangehörige aus dem abgelegenen Distrikt Mayurbhanj hatte ich nicht daran gedacht, Kandidatin für den Spitzenposten zu werden". Politische Führer in ihrer Heimat feierten sie als "Tochter des Bodens". Die Santhal, die sich durch sie vertreten fühlen, setzen sich unter anderem für die Anerkennung des "Sarna Dharma" ein - Wälder und Natur gelten ihnen als heilig.

Ein Drittel der indigenen Weltbevölkerung lebt in Indien

Eine weitere mächtige Frau in Indien ist Mamata Banerjee, die Chefministerin von Westbengalen, die früh angekündigt hatte, Droupadi Murmu als Präsidentschaftskandidatin zu unterstützen, und bei der Gelegenheit die Konkurrenz von der BJP. Banerjee möchte sich die indigene Wählerschaft in einigen Wahlbezirken gewogen halten. Santhals sind hier mit über 50 Prozent Bevölkerungsanteil die dominierende Gemeinschaft.

Im gesamten Land machen Indigene etwa 8,6 Prozent der Bevölkerung aus. Ein Drittel der indigenen Bevölkerung der Welt, mehr als 104 Millionen Stammesangehörige, lebt in Indien. Sie verteilen sich auf 705 Gemeinschaften und repräsentieren eine einzigartige kulturelle Vielfalt. Viele leiden unter Krankheiten, Unterernährung, psychischen Schäden und Suchtkrankheiten. Vielen von ihnen werden sich durch Murmu in ihren Interessen vertreten sehen.

Es könnte also eine gute Wahl für Indien sein, dass Droupadi Murmu eine offene, integrative Figur ist, die den steigenden Spannungen im Land etwas entgegenzusetzen hat. Es könnte aber auch eine gute Wahl für Narendra Modi und die BJP sein, die vor allem international unter Druck geraten sind, wegen ihrer hindunationalistisichen Politik, die einiges von diesen Spannungen verursacht und davon profitiert hat.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5625651
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.