Drogenkrieg in Mexiko:Nachdenken über das Undenkbare

Das Massaker von Tamaulipas ist kein Symbol für das Scheitern Mexikos. Es steht für das Scheitern der Welt. Nun muss darüber nachgedacht werden, den Drogenverkauf unter staatliche Kontrolle zu stellen.

Sebastian Schoepp

Es war eine Hinrichtung, ein Massaker, das an Schreckensbilder aus den Kriegsgebieten dieser Welt erinnert.

Drogenkrieg in Mexiko: 72 Menschen, allesamt arme Einwanderer, waren in Mexiko zusammengetrieben und mit automatischen Waffen exekutiert worden, weil sie sich geweigert hatten, als Drogenkuriere zu arbeiten. Nach einem Schusswechsel mit dem Drogenkartell wurden von der Polizei Waffen sichergestellt.

72 Menschen, allesamt arme Einwanderer, waren in Mexiko zusammengetrieben und mit automatischen Waffen exekutiert worden, weil sie sich geweigert hatten, als Drogenkuriere zu arbeiten. Nach einem Schusswechsel mit dem Drogenkartell wurden von der Polizei Waffen sichergestellt.

(Foto: AP)

72 Menschen, allesamt arme Einwanderer, waren zusammengetrieben und mit automatischen Waffen exekutiert worden, weil sie sich geweigert hatten, als Drogenkuriere zu arbeiten. Das ereignete sich nicht im Irak oder in Afghanistan, sondern in Mexiko - in unmittelbarer Nähe zu einem der bestgesicherten Länder der Welt, den USA.

Was für ein Staat ist das, der nicht in der Lage ist, die Menschen vor solchen Exzessen zu schützen? Was ist das für ein Land, in dem Drogenkartelle ganze Gegenden zu beherrschen scheinen, die Polizei infiltrieren, sich im Gemeinwesen ausbreiten wie ein Geschwür? Seit 2006 sind etwa 30.000 Menschen im mexikanischen Drogenkrieg gestorben. In Städten wie Ciudad Juárez zu leben, ist gefährlicher als in Bagdad. Gehört dieses Land also in eine Linie mit Kongo oder Somalia? Ist Mexiko ein failed state, ein gescheiterter Staat, der unregierbar geworden ist?

Die Antwort fiele leichter, würde Mexiko nicht aus zwei völlig verschiedenen Welten bestehen. Millionen Touristen verleben dort jedes Jahr unbehelligt ihre Ferien. Fast tausend deutsche Firmen investieren in Mexiko; VW plant gerade ein neues Werk und hat offenbar keine Probleme, seine Leute dorthin zu schicken. Mexiko kann ein Wirtschaftswachstum von mehr als vier Prozent vorweisen. Wer von der Hauptstadt durch das zentrale Hochland fährt, sieht endlose Reihen nagelneuer, weiß leuchtender Gewerbebauten auf beiden Seiten der sechsspurigen Autobahn, auf denen die überlangen Lastzüge dahindonnern. Die Kolonialstädtchen mit ihrem bunten Nachtleben atmen eine Prosperität, die eher an den Süden der USA oder an Spanien erinnert als an lateinamerikanische Misere. Sieht so ein kaputter Staat aus?

Auf der Liste eines Spezialistenteams in Washington namens Fund for Peace, das den Begriff failed state erfunden hat, liegt Mexiko im Mittelfeld; es steht etwas schlechter da als Bulgarien und Botswana, aber besser als die Türkei und Russland. Das Land ist noch nicht mal als gefährdet eingestuft. Dieses wäre erst dann der Fall, wenn die Regierung keine Kontrolle mehr über das eigene Territorium hätte, wenn die öffentliche Versorgung zusammenbräche oder wenn in der Bevölkerung der Konsens darüber fehlte, dass man gemeinsam einen Staat bildet, bilden will. Die mexikanischen Drogenkartelle aber haben kein Interesse daran, den Staat zu zerstören oder die Macht zu übernehmen; sie wollen Geschäfte machen.Sie stören den Staat nur insoweit, wie es ihnen nützt. Aller Alltagsgewalt zum Trotz sieht sich Mexiko als Nation mit Zukunft. Ein geregeltes Leben ist möglich, wenn man die Regeln kennt, nach denen es zu leben gilt: gewusst wohin und gewusst wann. Das freilich ist keine mexikanische Spezialität. Jeder, der die Wohlstandsinsel Europa verlässt, muss Überlebensregeln beachten. Das gilt für viele Länder dieser Welt - zumindest jene, die vom Kolonialismus geformt wurden. Oftmals wurde hier eine organische staatliche Entwicklung durch Invasion von außen brutal abgebrochen, Bevölkerung und Territorium wurden mit Gewalt gebildet. Anstelle von staatsbürgerlicher Gemeinsamkeit regiert das "Rette sich, wer kann."Den beschützenden Staat hat es nie gegeben.

Das Drama beginnt mit einem Massaker und endet in Luxuslofts

Seit Jahrhunderten ringen die Länder Lateinamerikas um ein friedliches soziales Zusammenleben. Erschwert wird das durch die Abhängigkeit vom Rohstoffexport in die reiche Welt. Er nährt korrupte Eliten und degradiert die Masse zu Tagelöhnern, welche die Schätze aus dem Boden kratzen. Die Drogenkriminalität ist nur der jüngste und brutalste Auswuchs dieses Modells. Überspitzt ausgedrückt: So wie die europäischen Armeen in den Weltkriegen Salpeter aus Chiles Bergwerken verfeuerten, so nährt heute die Wohlstandsdroge Kokain die Exzesse des Finanzkapitalismus.

Deshalb hat Mexikos Präsident Felipe Calderón recht, wenn er sagt: Es ist vollkommen egal, was wir gegen die Drogenmafia unternehmen, solange in New York, Madrid und Berlin märchenhaft viel Geld mit Drogen verdient wird. Das mexikanische Problem kann nicht ohne die Mithilfe jener Länder gelöst werden, in denen die Konsumenten sitzen - ebenso wenig wie das afghanische übrigens. Das Drama beginnt mit einem Massaker in der Wüste von Tamaulipas und endet in Luxuslofts oder im Stadtpark, wo die Spritzen herumliegen.

Deshalb fordern Fachleute in Lateinamerika, in den USA und Europa, über das "Undenkbare nachzudenken". Konkret formuliert hat das eine Kommission aus Ex-Präsidenten Brasiliens, Mexikos und Kolumbiens, alles gestandene Konservative. Sie fordern die reichen Länder auf, ihre Drogenpolitik zu korrigieren und - in begrenztem Maße und behutsam - den Drogenverkauf unter staatliche Kontrolle zu stellen. Das könne die Mafia-Bosse um ihre gewaltigen Gewinne bringen. Die Milliarden, die für einen aussichtslosen Drogenkrieg ausgegeben werden, könnten so in Forschung und Prävention fließen; an einer kontrollierten Abgabe könnten Staaten sogar verdienen. Die Toten von Tamaulipas sind kein Symbol für das Scheitern Mexikos, sie stehen für das Scheitern der Welt.

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