Es gibt Wahlen, deren Ergebnis bei Wählern wie Politikern Staunen auslöst. Die Stadtratswahl in Dresden vor zwei Wochen zum Beispiel. Dort gelang es 15 Parteien, mindestens einen Sitz zu ergattern. Damit liegt die Stadt im Trend: In Stuttgart schafften wie schon fünf Jahre zuvor 14 Parteien und Wahllisten den Einzug, in München waren es 13 bei der Wahl 2020. Doch in keiner deutschen Landeshauptstadt sind es so viele wie in Dresden. Möglich wurde das auch durch starke Verluste der Grünen und der Linken, die im Vergleich zu 2019 fast sechs beziehungsweise mehr als acht Prozentpunkte verloren haben. „Ich war schon ein bisschen überrascht, dass die bisher stärkeren Fraktionen noch mal weiter eingebüßt haben“, sagt Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP).
Der Ausgang der Wahl verrät dabei nicht nur etwas über Dresden, sondern auch über das Wahlverhalten der Sachsen. Mit dem liberalen „Team Zastrow“ und vor allem mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) waren bei der Stadtratswahl außerdem zwei Parteien erfolgreich, die bei der kommenden Landtagswahl eine wichtige Rolle spielen könnten.
Dem Oberbürgermeister bereitet der Haushalt Sorgen
In Dresden bereitet Hilbert vor allem der Haushalt Sorgen: 216 Millionen Euro müsse die Stadt in den kommenden vier Jahren einsparen, weil sie vom Land Sachsen weniger Geld bekomme, sagt der Oberbürgermeister. Für den Stadtrat sei die Verabschiedung der Finanzen das „höchste Gut“. Eine heikle Angelegenheit, denn Mehrheiten zu finden für schwierige Entscheidungen wie die über den Haushalt, dürfte durch die Wahl von 15 Parteien in den Stadtrat schwieriger geworden sein.
Laut Hilbert brauche man fünf Fraktionen „in der gesellschaftlichen Mitte“, um Mehrheiten im 70-köpfigen Stadtrat zu bekommen. In der letzten Wahlperiode waren es CDU, Grüne, SPD, FDP und die Freien Wähler/Freien Bürger Dresdens, die oft gemeinsam stimmten. Hilbert ist optimistisch, dass sich ein ähnliches Bündnis findet. Er führe bereits Sondierungsgespräche, damit dies gelinge.
Im Dresdner Rathaus sind nun neben dem Team Zastrow, mit dem es der ehemalige FDP-Politiker Holger Zastrow aus dem Stand auf acht Prozent brachte (sechs Sitze), auch die Freien Bürger und das lokale Klimaschutzbündnis „Die Dissidenten“ mit je einem Sitz vertreten. Diese lokalen Bündnisse seien typisch für Sachsen, erklärt der Politikwissenschaftler Erik Vollmann von der TU Dresden. „Aber so bunt wie jetzt im Dresdner Stadtrat ist es dann doch meistens nicht.“ Dass 15 Parteien den Einzug schafften, liege auch an der geringen Parteienbindung in Ostdeutschland. Gerade Grüne und FDP seien hier nicht stark „verankert“ und hätten es deshalb schwer – auf dem Land allerdings noch mehr als in der Stadt.
Die Kleinen – damit sind auch Grüne, SPD und FDP gemeint
Zwischen den sächsischen Wählern und den etablierten Parteien gebe es in Sachsen zudem eine „Bruchlinie“, wie Vollmann es nennt. „Ampel-Effekt“ könnte man es auch nennen. Dabei geht es um die Frage, wie viel Härte man gegen Russland zeigen soll. Vollmann sagt, bei vielen Bürgern gebe es einen deutlichen Widerspruch gegen harte Sanktionen und die „kriegerische Unterstützung“ der Ukraine. „Das sorgt auch dafür, dass die Kleinen weiter geschliffen worden sind.“ Die Kleinen, damit meint er tatsächlich Grüne, SPD und FDP.
Dabei geht es noch deutlich kleiner. Denn die Grünen holten bei der Stadtratswahl immerhin gut 14 Prozent (zehn Sitze). Die SPD stagnierte bei für sie schlechten neun Prozent (sechs Sitze). Noch schlimmer lief es für die FDP, die bei gerade mal 2,5 Prozent landete, weil sie so viele Stimmen an das Team Zastrow verlor. Auf die Fraktionsstärke von vier Sitzen, die es einer Partei etwa erlaubt, an Ausschüssen teilzunehmen und Mitarbeiter anzustellen, bringt es die FDP nun trotzdem. Es gelang ihr nämlich, einen Stadtrat vom Team Zastrow loszueisen und den bis dato fraktionslosen Stadtrat der Freien Bürger für sich zu gewinnen.
Die zu Beginn elf Fraktionslosen der Kleinparteien waren und sind für die größeren Parteien interessant, weil sie ihren Einfluss im Stadtrat ausbauen können, wenn es ihnen gelingt, sie an sich zu binden. Durch die Aufnahme in eine Fraktion bietet sich der Kleinpartei im Gegenzug die Chance, dass ein Teil ihres Wahlprogramms umgesetzt wird. Bleibt ein Fraktionsloser hingegen ungebunden, so ist für die anderen Stadträte nicht klar, wie er oder sie sich bei knappen Abstimmungen entscheiden wird. Dabei könnte selbst eine Partei, die nur einen Sitz hat, manchmal das „Zünglein an der Waage sein“, räumt Oberbürgermeister Hilbert ein.
Für Linke und FDP ist die neue Konkurrenz besonders gefährlich
Noch ist Jessica Roitzsch eine dieser freien Radikalen. Angetreten ist die 38-jährige Diplom-Ökologin für die proeuropäische Volt. Die Idee und die Energie der Partei „hat mich schnell angesteckt“, sagt sie. Einbringen möchte sie sich vor allem bei den Themen Bildung, Jugendarbeit und Kultur. Dafür führe sie Gespräche mit dem „progressiven Lager“, zu dem sie die Grünen zählt, aber auch die SPD, die Linke, die Piraten und die Satirepartei. Das BSW sei für sie eine „totale Blackbox“, da wisse man noch nicht, wie deren Stadträte agieren würden. Die AfD lehnt Roitzsch ab.
Dabei lag die AfD bei der Dresdner Stadtratswahl erstmals vor der CDU, hat nun einen Sitz mehr als sie (14). Politikwissenschaftler Vollmann meint, es sei in Anbetracht der Kräfteverhältnisse wahrscheinlicher geworden, dass andere Parteien mit der AfD abstimmten. Die CDU habe Angst, „Themen bei der AfD liegen zu lassen“ – wie bei der Bezahlkarte für Asylsuchende. Damals stimmten auch CDU, FDP und Freie Wähler für einen AfD-Antrag. Oberbürgermeister Hilbert glaubt nicht, dass der Druck auf die Stadträte gestiegen sei, mit der AfD abzustimmen: „Es steigt aber der Druck, sich mit Vertretern anderer Parteien zu einigen.“
Wie bei der Wahl des Dresdner Stadtrats dürfte es die Linke durch die Konkurrenz zum BSW auch bei der Landtagswahl schwer haben und womöglich sogar an der Fünfprozenthürde scheitern. Für die FDP gilt dasselbe. Denn Holger Zastrow hat bereits angekündigt, dass sein „Team“ auch bei dieser Wahl antreten möchte. Volt geht einen anderen Weg. Mehr als fünf Prozent der Stimmen zu bekommen, sei „illusorisch“, sagt Roitzsch. „Deshalb haben wir uns ganz bewusst dazu entschieden, bei der Landtagswahl nicht anzutreten.“ Damit wolle man die anderen Parteien unterstützen, offenbar vor allem die Grünen und die SPD. Fällt das Wahlergebnis bei der Landtagswahl nämlich ähnlich fragmentiert aus wie in Dresden, würden wohl nur drei Parteien den Cut schaffen: CDU, BSW und die AfD – was eine Regierungsbildung vor dem Hintergrund der Debatte um die Brandmauer sehr schwierig machen dürfte.