Diskussion im Bundestag:"Stuttgart 21 lässt sich nicht durchknüppeln"

Die Grünen wollen die Demonstrationen in Stuttgart im Bundestag debattieren. Sie scheitern an der Sprachlosigkeit der schwarz-gelben Koalition - wie die kurze Debatte zur Geschäftsordnung zeigt.

Thorsten Denkler, Berlin

Die Grünen sind die ersten, die schon weit vor Beginn der 63. Sitzung des Bundestages im Plenarsaal zusammenkommen. Fraktionschef Jürgen Trittin zeigt Parteichefin Claudia Roth das Aufmacherbild in der Financial Times Deutschland. Wie fast alle Zeitungen im Land zeigt sie Demonstranten, die in Stuttgart gegen die Rodung des jahrhundertealten Schlossparks protestieren.

Policemen remove protestors from a park next to the Stuttgart train station

"Glauben Sie ernsthaft, die Polizei habe so handeln müssen?" Die Grüne Britta Haßelmann hat das Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten in Stuttgart heftig kritisiert.

(Foto: Reuters)

Die Bäume sollen bis Samstag für das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 gefällt werden. Tausende Demonstranten leisteten dagegen im Stuttgarter Schlosspark Widerstand. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein. Viele Demonstranten wurden verletzt, auch ältere Menschen und Kinder. Kopfschüttelnd beugen sich einige Abgeordnete über die Berichte in den Zeitungen.

Dabei steht an diesem Morgen im Bundestag etwas ganz anderes auf dem Programm: das Energiekonzept der Bundesregierung. An sich schon ein emotionales Thema. Es geht um die Verlängerung der Atomlaufzeiten um zwölf Jahre, die den Atomfrieden in diesem Land in Gefahr bringen kann. Die Stimmung im Publikum ist gereizt. Und auch die Abgeordneten sind nach den nächtlichen Ereignissen emotional aufgewühlt - und zwar in allen Fraktionen. Allerdings aus höchst unterschiedlichen Gründen.

Am Morgen hat sich der Innenausschuss des Bundestages in einer Sondersitzung mit den Vorfällen beschäftigt. Die Grünen aber wollten, dass auch im Bundestag über die Demonstrationen debattiert wird. Das ist nach den Regeln des Bundestages nicht so einfach. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit wäre nötig gewesen, die Tagesordnung so kurzfristig zu ändern. Dass es die nicht geben würde, war klar. Zu wenig Lust verspüren offenbar die Koalitionäre von Union und FDP, sich in der Sache Stuttgart 21 noch weiter in die Defensive bringen zu lassen.

So verwandeln die Grünen und mit ihnen SPD und Linke die Geschäftsordnungsdebatte über den Antrag auf Veränderung der Tagesordnung in eine halbstündige Abrechnung mit der Pro-Stuttgart-21-Politik der Koalition.

Die Grüne Britta Haßelmann muss gegen einen erheblichen Lautstärkepegel auf der Seite von Union und FDP anreden. "Achten Sie bitte auf Ihre Empörung", ruft Haßelmann den Abgeordneten der Koalitionsparteien zu. Es seien nämlich auch bürgerliche Wähler darunter.

Das ist tatsächlich das Kernproblem von CDU und FDP, die auch in Stuttgart zusammen regieren. Mit ihrer starren Haltung scheinen sie gerade ihre letzten Wahlchancen zu verspielen. Bundeskanzlerin Angela Merkel verfolgt die Debatte von ihrem Platz aus mit einer Miene, als habe ein Steinmetz sie ihr aus Granit herausgeschlagen.

"Ich wünsche mir, dass solche Demonstrationen friedlich verlaufen", hatte sie morgens im SWR gesagt. "Alles muss vermieden werden, was zu Gewalt führen kann." Nun scheint sie eher darüber nachzudenken, ob es wirklich so eine gute Idee war, die Landtagswahl in Baden-Württemberg im kommenden März zur Bürgerbefragung über Stuttgart 21 zu erklären.

Haßelmann beklagt: Mit dieser "absoluten Eskalation" der vergangenen Nacht gebe es offenbar "keine Ebene mehr des miteinander Redens". Sie zitiert den Präsidentschaftskandidaten von Rot-Grün, Joachim Gauck, der die Menschen zur Teilhabe aufgefordert habe, um so die Demokratie zu stärken. Gauck habe von "Sprachstörungen zwischen Regierenden und Regierten" gesprochen. Wie sehr Gauck recht habe, mache sich auch an der Reaktion der Koalition auf die Demonstrationen fest.

"Was lernen die Schüler über Demokratie?"

Da werde von "unmittelbarem Zwang" gesprochen, von nicht angemeldeten Demonstrationen. "Glauben Sie ernsthaft, die Polizei habe so handeln müssen?", fragt Haßelmann. Und gibt noch eine Nachhilfe in Demonstrationsrecht: "Meine Damen und Herren, in diesem Land muss man Demonstrationen nicht anmelden." Die Lage müsse jetzt befriedet werden und der Bundestag müsse darüber reden, welchen Beitrag er dazu leisten könne. Darüber aber will der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Peter Altmaier, auf keinen Fall reden. Zumindest nicht heute. Inhaltlich geht er kaum auf die Demonstrationen ein. Stattdessen wirft er den Grünen vor, "durchsichtig, taktisch und politisch schädlich" zu handeln, wenn sie das Thema so kurzfristig auf die Tagesordnung setzen wollten.

Im Übrigen hätte das ja auch fristgerecht geschehen können. Erste Meldungen über die Demonstrationen habe es schon am Nachmittag des Vortages gegeben. Der Antrag auf Änderung der Tagesordnung sei aber erst am Abend, "zweieinhalb Stunden nach Fristablauf" eingegangen. Altmaier: "Wir sind nicht dafür da, offensichtliches Organisationsversagen der Grünen zu kaschieren." Außerdem sei das ein föderales Land. Die Zuständigkeit liege damit beim Land Baden-Württemberg, nicht beim Bund. Ende.

Wie Altmaier mit solchen Formalargumenten die Demonstranten in Stuttgart erreichen will, bleibt offen. Es scheint, als sei die Koalition sprachlos angesichts der Proteste.

SPD-Mann Christian Lange, selbst Baden-Württemberger, sieht das mit dem Föderalismus nicht gänzlich anders. In seinen Augen trägt CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus die politische Verantwortung für die Eskalation in Stuttgart. Die "erschütternden Bilder" aus der Nacht zeigten: "Stuttgart 21 kann man nicht mit Gewalt durchknüppeln." Es doch versucht zu haben, dafür sollte Innenminister Heribert Rech (CDU) "besser zurücktreten". Ihm täten schlicht die Polizisten Leid, "auf deren Rücken diese Rambo-Politik ausgetragen wird". Die SPD ist noch immer im Kern für Stuttgart 21. Jetzt aber wirbt Lange für eine Volksabstimmung über das Projekt. Die einzige Alternative dazu sei "Augen zu und durch".

Jörg van Essen von der FDP versucht die Demonstrationen als lächerliche Scharmützel hinzustellen. In der nächsten Zeit würden in Hamburg 280 Bäume gefällt. Nicht weil der Bundestag das wolle, sondern weil es die grüne Umweltsenatorin wolle. Ihm sei "nicht bekannt", dass die Grünen auch darüber im Bundestag debattieren wollten.

Dann klärt van Essen auf, dass er ja ein "engagierter Eisenbahnfreund" sei, und macht einen gewagten Exkurs in die bald 175-jährige Eisenbahngeschichte. Am Anfang hätten sich die "Bürger in ihrer Biedermeieridylle" gestört gefühlt. Da habe es Spekulationen gegeben, ab 25 Kilometern pro Stunde werde der Mensch wahnsinnig und Frauen würden unfruchtbar. "Es hat sich Gott sei Dank die Vernunft durchgesetzt", lächelt van Essen.

Die Linke Dagmar Enkelmann sagt später, was viele auf der linken Seite des Hauses in dem Moment gedacht haben. "Wir beide mögen uns sehr, aber das, wie Sie hier vorgetragen haben, ist mehr als peinlich." Sie erntet dafür massives Gejohle aus dem bürgerlichen Lager. Allerdings nicht nach dem Wort "peinlich", sondern nach "wir mögen uns sehr".

Enkelmannn fragt, was denn die Schülerinnen und Schüler und auch die älteren Menschen, die sich in Stuttgart vielleicht zum ersten Mal politisch auf der Straße äußern, "über Demokratie" lernen. "Was lernen sie über Meinungsfreiheit? Was lernen sie, wenn plötzlich Wasserwerfer auffahren und Tränengas eingesetzt wird? Vertrauen in den Staat? - Das können Sie vergessen!" Enkelmann fordert einen umgehenden Baustopp. "Das sind wir denen schuldig, die dort brutal verletzt worden sind."

Der Antrag der Grünen wird danach mit den Stimmen von Union und FDP abgelehnt.

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