Neulich verschickte Donald Trump an seine zehn Millionen Follower auf Twitter eine Infografik, die besagte, dass 81 Prozent aller weißen Mordopfer durch schwarze Täter getötet wurden. Als Quelle nannte er das "Crime Statistics Bureau San Francisco". Ein solches Institut gibt es allerdings nicht. Tatsächlich fielen, so die offiziellen Zahlen des FBI, 80 Prozent aller weißen Ermordeten weißen Tätern zum Opfer.
Trump lügt nicht allein. Im letzten Dezember publizierte die New York Times eine Tabelle mit den Unwahrheitsquoten amerikanischer Politiker. Den Vogel schießt Ben Carson ab, der damals noch als republikanischer Kandidat im Rennen war: 84 Prozent seiner politischen Aussagen waren halb, überwiegend oder gänzlich unwahr. Gleich danach folgt Trump mit 76 Prozent; nur sieben Prozent seiner Behauptungen sind wahr oder überwiegend wahr.
Die ausufernde Lügenpraxis ist keine Domäne amerikanischer Politiker. Geradezu ein Lehrstück für die Rolle politischer Falschaussagen war der Meinungskampf um das Brexit-Referendum. Als Meister unverfrorener Unaufrichtigkeit erwies sich vor allem der Charismatiker des Brexit-Lagers, Boris Johnson.
Allerdings sind nicht alle Faktenchecks ihrerseits so seriös, wie sie vorgeben. Der "Faktenzoom", mit dem die Kölner Journalistenschule in diesem Frühjahr Aussagen von Politikern in Talkshows unter die Lupe nahm, kam zum Schluss, dass dort im Schnitt jede siebte Behauptung falsch ist. Doch diese Untersuchung strotzte nach Prüfung durch die Webseite uebermedien.de selbst "vor Fehlern, Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten".
Soziale Medien küren ihren eigenen Wahrheitsraum
Man zitierte und unterstellte falsch - aber der Effekt blieb. Soziale Medien küren ihren eigenen Wahrheitsraum. Gleichwohl bleibt unbestreitbar, dass Faktenchecks in diesen Medien viel dazu beitragen, dass Lügen in Echtzeit entlarvt werden. Nicht wenige Beobachter glauben deshalb, dass wir heute nur genauer hinschauen und so der irrtümliche Eindruck entsteht, dass Politiker mehr denn je die Wahrheit manipulieren.
Könnte es trotzdem sein, dass die Lügen wegen dieser neuen Dauerkontrolle zwar immer kürzere Beine haben, aber dennoch der Drang, politische Unwahrheiten zu verbreiten, stärker wird? Jedenfalls der Drang zu einem bestimmten Typus von Lügen, nämlich Lügen nationalistischer Tonart?
Dass es sich lohnt, dieser Vermutung auf den Grund zu gehen, illustriert das Beispiel Brexit. Die faustdicke Lüge der falschen Nettozahlungen an die EU wurde öffentlich bis zuletzt ins Feld geführt, obwohl sie immer wieder aufs Neue widerlegt wurde. Fruchtlos blieb die Widerlegung besonders deshalb, weil die Brexitbefürworter auf eine wahrheitsresistente Parole setzten - "take back control" (gewinnt die Kontrolle zurück). Für diese Parole sind derlei Fakten irrelevant.
Natürlich stehen in jedem politischen System Wahrheitsfragen in einem Spannungsverhältnis zu Wertefragen. Programmatische Ziele wie Imperium, nationale Glorie, Volksherrschaft, Gerechtigkeit, Europa oder sonst eine politische Vision erheben sich über nackte Tatsachen, auch wenn sie sich nicht völlig von der Realität lösen können. Umgekehrt, das lehrt uns die moderne Erkenntniskritik, sind selbst "reine" Tatsachenaussagen nicht frei von subjektiven Vor-Annahmen und Interpretationen. Aber trotz dieses unvermeidlichen Dunkelfelds zwischen Faktum und Wertung wusste man zu allen Zeiten, politische Lügen von Meinung oder Irrtum zu unterscheiden.
Die Lüge als gefährlicher Machtmissbrauch
Die Lüge zielt auf einen absichtlich herbeigeführten Wahrnehmungsfehler ihres Adressaten. Wenn Wissen Macht ist, dann ist Lüge Machtmissbrauch. Sie funktioniert nur, wenn der Adressat sich auf die Wahrhaftigkeit seines Gegenüber verlässt. "Die Lüge muss, um erfolgreich zu sein", sagte schon Augustinus, "das Vertrauen in die Wahrheit menschlicher Rede voraussetzen, das sie zugleich zerstört".
Und in Demokratien zerstört die politische Lüge die Wahrheit der öffentlichen Rede. Wahrscheinlich ist die Demokratie bei allen ihren ideellen Werten stärker als jedes andere politische System auf Realismus aufgebaut. Keiner weiß das besser zu nutzen als der lügende Volksvertreter.
Was also sind die Gründe, warum politische Lügen im Westen zurzeit eine Konjunktur haben? Wären es nur jene üblichen Schwindeleien zum persönlichen Vorteil à la Karl Theodor zu Guttenberg oder Petra Hinz oder auch nur die Wahlkampflügen der traditionellen Art, könnte man es bei der Klage über unausrottbare menschliche Untugenden belassen.
Die Korrumpierung der Wahrhaftigkeit durch Geld, politische Karriere und Macht begleiten die Politik durch alle Zeiten. Aber nicht solche egoistischen Lügen (die sich auch Hillary Clinton, Bernie Sanders oder Angela Merkel zuschulden kommen lassen) beunruhigen uns heute besonders, sondern die uneigennützigen Lügen, die Lügen zum Schutz und Wohl der Nation. Ihre Immunität gegen Wahrheit ist sehr viel höher und sehr viel gefährlicher.
In den Neunzigerjahren kam das neue Schlagwort der "Post-Realitäts-Politik"auf. Manifest wurde es bei den Republikanern unter George W. Bush. Ein Berater des Präsidenten beschrieb sie 2004 der New York Times nicht ohne unverhohlene Geringschätzung der "naiven" Realisten: "Sie glauben noch, dass Lösungen aus sorgfältigen Realitätsanalysen hervorgehen. So aber läuft die Welt nicht mehr. Wir sind ein Imperium, und wenn wir handeln, kreieren wir unsere eigene Realität. Und während Sie diese Realität untersuchen, agieren wir schon wieder und stellen Realitäten her, die Sie dann wieder analysieren können. Wir sind Akteure der Geschichte, die andere Wirklichkeiten hervorbringen. Und euch allen bleibt nichts anderes übrig, als mit euren Analysen dem hinterherzulaufen, was wir tun."
Das sagt eine Regierung, die auf der Basis der Lüge von "Saddams Massenvernichtungswaffen" den Irak angriff und tatsächlich eine neue Realität schuf. Die wurde dann zum bis heute andauernden Desaster der gesamten Region. Ohnehin war der auftrumpfende Ton, mit dem man den Einzug ins post-faktische Zeitalter feierte, verräterisch. "Herrschaft über die Realität" klang im Jahre 2004 längst wie das Pfeifen im Walde. 9/11 saß allen in den Knochen, und auch der Irakkrieg war den unbedarften Interventionsoptimisten Washingtons bereits auf fürchterliche Weise entglitten. Kein Wunder, dass sich die anmaßende Realitätsverachtung schnell in angstbesetzte Realitätsleugnung wandelte.
Auch die übrige Welt folgt demselben Muster. Seitdem sich die herrschende politische Stimmung durch die Schrecken des endemisch gewordenen Terrors, die Finanz- und Euro-Krise, die Schattenseiten der Globalisierung, die Flucht- und Armutsmigration, den neuen kalten Krieg und andere transnationale Miseren niederdrücken lässt, gewinnen politische Realitätsfluchten und Realitätsverneinungen immer mehr an Gewicht. Angst, zumal wenn sie partiell begründet ist, kann man schüren, Realismus nicht. Das ist der strategische Nachteil aller Sachlichkeit.
Ausblenden, verdrängen, aussortieren
Das überaus düstere Bild, das Donald Trump zuletzt in seiner Grundsatzrede auf dem republikanischen Nominierungskonvent von Amerika zeichnete, ist exemplarisch - verzerrt, überzeichnet, manipulativ und unwahr, aber als Rhetorik allseitiger Bedrohung umso wirkungsvoller. Mit ähnlichem Willen zur realitätsklitternden Dramatisierung malen Marine Le Pen, Geert Wilders, Frauke Petry, Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński und Konsorten für ihre jeweiligen Heimatländer furchterregende Gefahrenszenarien auf, wobei auf dem alten Kontinent noch das "Monster EU" als weitere Bedrohung hinzugefügt wird.
Aber nicht nur auf dem Feld hysterischer, oft bis zur Paranoia gesteigerter Untergangsszenarien gedeihen politische Lügen so gut. Vielmehr setzt sich die Logik der Lüge in den Visionen der Rettung fort, die man als Lösung beschwört. Rettung ist nur möglich, das verkünden die neuen Demagogen, wenn der durch Terror, Immigration, Globalisierung und EU entmachtete Staat seine nationale Handlungsmacht wiedergewinnt. "Take back control" ist nicht nur das Motto von Brexit, sondern aller Neo-Nationalisten weltweit.
Umso höher ist der weltweit zu zahlende Preis an Wahrheitsverlusten. Überall, wo man heute eine rigorose politische Selbstherrschaft gegen die auf allen Kanälen hereindringende internationalisierte Welt zurückerobern will, muss man beträchtliche Dimensionen der politischen und sozialen Realität ausblenden, verdrängen, aussortieren.
Entweder bestätigt die Realität den eigenen Wahn - oder sie entblößt ihn
So trivial und an allen Ecken und Enden mit Händen zu greifen es heute ist, dass alle politische Praxis und Sinngebung durch Dritt-, Fremd und Außenwelten mitgeprägt wird, so eindeutig ist der Wunsch nach nationalstaatlicher Souveränität der alten Art mehr als nur eine Illusion: es ist ein Wahn. Der erste und wichtigste Grund, warum nationalistische Politiker zum Lügen neigen, ist daher ihre Selbsttäuschung.
Und sie erklärt auch, warum Lügen dieser Politiker dem Publikum gegenüber oft so aggressiv und unerschütterlich sind. Nichts wird energischer mit Zehen und Klauen verteidigt als Lebenslügen. Es ist kein Zufall, dass ein amerikanischer Kommentator in Analogie zum berüchtigten "war on terror" den Begriff "war on reality" verwendete. Die Machtberauschten um George W. Bush, Dick Cheney und Donald Rumsfeld begegneten missliebiger Realität mit Geringschätzung. Doch die neuen Nationalisten begegnen ihr, wenn sie nicht ins Bild passt, mit Feindschaft.
Dass ausgerechnet sie vehement gegen die "Lügenpresse" wettern, ist folgerichtig. Entweder bestätigt die Realität den eigenen Wahn oder sie entblößt ihn. Im letzteren Fall muss sie, wenn man sie nicht ignorieren kann, verteufelt und bekämpft werden. Alle autoritären Regime wie das von Putin oder von Erdoğan führen einen Krieg gegen die Wahrheit. Doch in Demokratien, in denen die Wahrheit nicht der Macht, sondern der Machtkritik und der Aufklärung dient, ist Feindschaft gegen unerwünschte Realitäten eine Feindschaft gegen Demokratie selbst.