Diskurs und Demokratie:Abweichende Meinungen als Angriff auf die eigene Identität

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Kontroversen sind jedoch nur dann produktiv, wenn man nicht von vornherein mit absoluten Gewissheiten argumentiert, wenn nicht nur bereits vorhandene Positionen aktualisiert werden. Wenn man sich auf eine gemeinsame Wahrheitssuche einlässt. Sonst bleibt nichts als eine dumpf-dröge Debatten-Show nach bekanntem Drehbuch.

Dieses Problem zu erkennen, ist leicht; es in politischen Debatten auch zu lösen, ist es nicht.

Der einfachere Weg: mit Abwehr und Wut auf Andersdenkende zu reagieren. Diese anzugreifen und Gleichgesinnte anzustacheln, sich in einer Erregungsgemeinschaft zusammenzuschließen. Hauptsache, selbst nicht verunsichert wirken. Abweichende Meinungen empfindet man dann als Angriff auf die eigene Identität, die eigene Person - deshalb fallen auch die Reaktionen persönlich aus. Jede sprachliche Mäßigung wird aufgegeben, um den anderen zu übertönen. Und gleichzeitig wird scheindemokratisch die Mäßigung der Gegner in möglichst pointierten oder brutalen Polemiken verlangt. Das ist in der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie von Vorteil. Es ist aber auch völlig vorhersehbar. Und führt zu Apathie, Erschöpfung, Müdigkeit. Überraschend wäre es ja nur, wenn jemand während einer Debatte angesichts guter Argumente seine Meinung änderte. Oder zumindest ins Grübeln kommt. Das passiert aber eben nicht.

Dass diese Schwäche des Diskurses Deutschland gerade in dem Moment wie eine Krankheit befällt, da jeder im Netz die Möglichkeit hat, alles zu sagen, immer und überall, in hoher Frequenz und potenziell mit unbegrenzter Reichweite, ist kein Widerspruch. Im Netz verwirklicht sich nicht automatisch das utopische Potenzial von Demokratisierung und öffentlicher Teilhabe. Dazu bietet es dort zu viele abgeschlossene Echokammern.

Darin entsteht oft eine Dynamik, die direkt in einen Abgrund aus Misstrauen führt. Die Basis für Diskussionen mit dem Außen geht verloren, wenn man nur noch nach innen blickt. Das öffentlich Gesagte verkommt für die Zuhörer dann zu einem bloßen Platzhalter für das Nichtgesagte. Das, was aus ihrer Sicht gesagt werden sollte. Alles Sprechen wird zur Täuschung, zum Vertuschungsversuch.

Und festigt so, welch Paradox, den Status quo. Denn die Konzentration auf die eigene Gruppe macht die Gegner ungewollt zu Komplizen. Die beiden Gruppen versichern sich ihrer selbst über ihre unlösbare Gegnerschaft und sind sich damit in ihrem Verhalten oft viel ähnlicher, als sie es sich selbst zugestehen.

Was folgt aber daraus? Dass scharfe Kritik an Andersdenkenden nicht mehr zulässig ist? Nein. Sich einmischen, wenn nötig Einspruch erheben, dagegenhalten, die eigene Überzeugungen argumentativ verteidigen: Das ist Demokratie. Auch wenn darin ein interesseloser, ideologisch freier Raum, in dem es möglich ist, verschiedene Meinungen gegeneinander antreten zu lassen, so gut wie nie zu finden ist.

Wenn der verbale Furor verschwindet

Äußert sich jemand jedoch beispielsweise antisemitisch, islamophob, frauenfeindlich oder homophob, dann darf ihm nicht nur bloße Empörung entgegengehalten werden. Grundwerte, abgeleitet aus einem humanitären Universalismus, sind nicht verhandelbar.

Und trotzdem steht dann oft die Aussage eines Wütenden gegen die Aussage eines anderen. Aussage gegen Aussage. Wut gegen Wut. Ein Wettkampf, der gewonnen werden muss, selbst wenn man dabei untergeht.

Dieser Wettkampf, auch das ist Populismus. Populismus nährt sich aus ignoranter Empörung und arroganter Zurechtweisung, er höhlt die Normen aus, indem er sie zur Debatte stellt. Das, was vorgeblich öffentlich diskutiert werden soll, wird dann schlicht affirmiert, die Grenze des Sagbaren immer weiter verschoben.

Was also tun, um einerseits nicht gegen jede mögliche Abweichung immun zu werden? Gegen jede Abweichung auch vom eigenen Selbstbild? Gegen eine Abweichung, die den Unterschied machen könnte? Und um andererseits nicht in die Empörungsfalle zu tappen?

Es hilft, nicht sofort die vermeintlich empörenden Fehler oder Schwachpunkte in der Argumentation des anderen zu suchen, sondern seine Position grundsätzlich mit Aufgeschlossenheit zu betrachten, sie so nachvollziehbar wie möglich zu rekonstruieren. Erst mal zuhören. Das ist mühselig, vielleicht auch langweilig oder ärgerlich. Mit einiger Wahrscheinlichkeit steckt aber zumindest ein wenig Wahrheit in dem, was der andere sagt.

Geht es zum Beispiel in einer Diskussion vor allem um Volk oder Nation oder Identität, hilft vielleicht die bloße Frage nach Gründen für die extreme, für die ausgrenzende Meinung, um etwas anderes dahinter zu entdecken als Fremdenhass. Vielleicht endet ein solches Gespräch dann bei der Frage nach sozialer Gerechtigkeit.

Das ist der Moment, in dem die Chance besteht, dass die Autorität des Arguments wieder in den Vordergrund rückt. Und der verbale Furor, wie er in dem zu Beginn zitierten Text vorhanden war, verschwindet.

Dieser Beitrag ist Teil des SZ-Projekts Democracy Lab, in dem wir vor der Wahl über Ihre Themen diskutieren wollen. Lesen Sie mehr dazu:

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