Diskriminierung in Europa:Die Vorurteile der anderen

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Offene Grenzen, versteckte Vorurteile: Diskriminierung und Globalisierung schließen sich nicht aus.

(Foto: REUTERS)

Wir halten uns für weltoffen und tolerant, gerade in einem Europa der offenen Grenzen. Aber Stereotype und Ressentiments erweisen sich auch im Zeitalter der Globalisierung als hartnäckig - vor allem wenn sie uns gar nicht bewusst sind.

Von Sabrina Ebitsch

"Ihre Daten lassen vermuten: schwache automatische Bevorzugung von hellhäutigen gegenüber dunkelhäutigen Menschen." Oh! Oh Gott! Welchen Eindruck hinterlässt das Testergebnis? Auf einer Skala von "6 - angenehm" bis "1 - frustrierend"? Eher das untere Ende.

Das wäre Ihnen nicht passiert? Möglich, aber unwahrscheinlich (hier können Sie es ausprobieren). Das US-Forschungsprojekt Implicit Association Test (IAT) versucht, unseren unbewussten Vorurteilen auf die Spur zu kommen. Nach Gesamtauswertung von allen Teilnehmern ist nur bei einer Minderheit von 17 Prozent keine Bevorzugung nachweisbar. Ähnlich sieht es bei den Fragebögen aus, bei denen es um Frauen und Männer, Schwarze und Weiße, Asiaten oder Muslime geht und darum, wer was von wem hält.

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Das mag ein Schock sein für alle, die sich für weltoffen und tolerant halten. Die mit 15 in Frankreich beim Schüleraustausch waren und mit 22 zum Studieren in Südspanien, die im Urlaub die halbe Welt bereisen, daheim selbstverständlich italienische, griechische, türkische, lettische Freunde und Kollegen haben und abends gerne interkulturell speisen.

Menschenfeindlichkeit "in Europa weit verbreitet"

Ergebnisse wie diese sind allerdings mehr als eine narzisstische Kränkung; sie sind eine sozialpsychologische Diagnose mit Folgen. Vorurteile sind eine menschliche Grundkonstante. Auch wenn diese Erkenntnis mit unserem Selbstbild kollidiert und auch (und gerade) in einem immer grenzenloseren Europa und einer immer globalisierteren Welt nicht mehr zeitgemäß erscheint. Daran haben weder ein dichtes Interkontinental-Flugnetz und Facebook noch Erasmus oder Schengen etwas ändern können. "Wir überschätzen unsere eigene Toleranz und unterdrücken unsere Vorurteile, aber unbewusst wirken sie weiter", sagt Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld.

Deutlich wird das unter anderem in Umfrageergebnissen wie diesen: Die Hälfte der Deutschen ist der Meinung, es gebe in der Bundesrepublik zu viele Zuwanderer. 42 Prozent geben an, dass manche Kulturen anderen "klar überlegen" seien und 31 Prozent, es gebe eine "natürliche Hierarchie zwischen schwarzen und weißen Völkern".

In anderen europäischen Ländern sieht es ähnlich aus, bilanziert eine europaweite Studie zu Intoleranz und Diskriminierung. Fast 50 Prozent aller Europäer beispielsweise würden nicht in ein Viertel ziehen, in dem viele Migranten leben. Die Studie kommt zu dem "besorgniserregenden" Ergebnis, dass "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", wie die Forscher das zugrundeliegende Phänomen beschreiben, "in Europa weit verbreitet" ist. Und dass damit die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Menschen diskriminiert werden und Gewalt erfahren, weil sie anders oder eben von woanders sind.

Mit ganz realen Folgen. Erst kürzlich offenbarte eine Untersuchung des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen, dass die Herkunft entscheidenden Einfluss auf beruflichen Erfolg hat. Während Deutsche durchschnittlich nur fünf Bewerbungen schreiben müssen, bis sie zu einem Vorstellungsgespräch für eine Ausbildung eingeladen werden, braucht ein Bewerber mit türkisch klingendem Namen bei gleicher Qualifikation sieben Anläufe. Andere Studien weisen in dieselbe Richtung.

42 Prozent Opfer von Diskriminierung

Zwar wird offene Fremdenfeindlichkeit kaum mehr akzeptiert, subtilere Benachteiligung aufgrund von Herkunft oder Hautfarbe ist aber auch in anderen Lebensbereichen noch immer Alltag. In einer weiteren Studie des Sachverständigenrats gaben etwa 42 Prozent aller Befragten mit Migrationshintergrund an, schon einmal Opfer von Diskriminierung geworden zu sein, insbesondere bei Ämtern und Behörden. Noch ein Beispiel: Forscher der Uni Konstanz verschickten Hunderte Wohnungsanfragen, mal von einer deutsch, mal von einer türkisch klingenden Mailadresse: Erstere bekamen deutlich häufiger Rückmeldung - und günstigere Mietpreise offeriert.

Auch deshalb braucht es immer noch Gleichstellungsbeauftrage, Antidiskriminierungsstellen, Förderprogramme oder Diversity Management, wie man es neudeutsch nennt, wenn Unternehmen gezielt daran arbeiten, dass in ihren Büros nicht nur weiße, deutsche Männer mittleren Alters Karriere machen. Hans Jablonski, Berater in Sachen Business Diversity, verdient damit sein Geld. Er wird angerufen, wenn Firmen merken, dass sie Vielfalt - ihrer Kunden, ihrer Märkte - nicht widerspiegeln oder von ihrer eigenen Vielfalt überfordert sind. Jablonski versucht dann ein Bewusstsein für versteckte Vorurteile zu schaffen. Zum Beispiel über Assoziationsübungen: Die Teilnehmer sollen sich eine Geschichte über einen Mitarbeiter ausdenken, der zur Führungskraft aufsteigt, und am Ende hat die ganze Runde unwillkürlich einen Mann mittleren Alters und nicht ausländischer Herkunft vor Augen - und keine Frau mit Migrationshintergrund.

Nach Jablonskis 20-jähriger Erfahrung sitzen Teilnehmer anfangs oft mit verschränkten Armen da. "Viele Chefs streiten ihre Vorurteile erst einmal ab und sind der festen Überzeugung, dass sie Personalentscheidungen rein nach Leistung getroffen haben." Auch "lautstarke Diskussionen" seien, wenn man sie mit dem Gegenteil konfrontiert, in den Trainings keine Seltenheit. Manchmal überrasche ihn die Diskrepanz, wie verbohrt und deutschlandfixiert man mitunter selbst in großen internationalen Unternehmen sei - "weil es erstmal unbequem ist, sich mit Anderssein auseinanderzusetzen".

Wie wir subjektiv von Vorurteilen profitieren

Dass Vorurteile allzu menschlich sind, hat biologische Ursachen. Wir sind entsprechend neurologisch verschaltet, weil wir von Vourteilen zunächst subjektiv profitieren. Stereotype, ebenso wie ihre (ab)wertenden Konterparts, die Vorurteile, helfen uns, eine chaotische Umwelt zu ordnen und zu verstehen. Sie erfüllen auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe und danach, andere abzuwerten, um sich selbst zu erhöhen. Und letztlich gibt uns ein Vorurteil Sicherheit, weil es uns sagt, wem wir vertrauen können - und wem nicht. Im Zweifel sind letzteres immer die anderen.

Vor allem in Krisen wird das virulent. Dass alte Nationalismen ("So haben uns die Griechen reingelegt", "Keinen Cent mehr für die Pleite-Griechen") seit der Finanzkrise wieder aufflammen und öffentliche Ressentiments (Thilo Sarrazin oder Akif Pirinçci) salonfähig werden, liegt an einem diffusen Gefühl der Bedrohung. "In der Krise selbst greift ein Sündenbock-Mechanismus, der schwache Gruppen abwertet", sagt Konfliktforscher Zick. "Aber wenn die Krise zu Ende ist, geht die Abwertung weiter, weil es wieder etwas zu verteilen gibt." In seinen Untersuchungen weist Zick einen Anstieg von Fremdenfeindlichkeit in den vergangenen drei Jahren nach, die er auch auf die Folgen der Finanzkrise in Europa zurückführt.

Vorurteile werden an den Zeitgeist angepasst

Dass Vorurteile einen subjektiven Nutzen haben, macht sie so hartnäckig. Wir fangen schon als Kinder an, die Welt um uns herum und die Menschen darin in Schubladen zu stecken. Sie dort wieder herauszuholen oder die Schubladen zumindest neu zu beschriften, ist extrem schwierig.

"Vorurteile können unterdrückt werden, aber die ihnen zugrundeliegenden Stereotype sitzen relativ fest und können jederzeit reaktiviert und an den Zeitgeist angepasst werden", sagt Zick. Vorurteile gegen Muslime beispielsweise würden seit den ersten Reisen mittelalterlicher Kaufleute weitergegeben und seit 9/11 über eine neue Islamfeindlichkeit aktualisiert. Bei den Griechen sei es das alte Vorurteil vom faulen Gastarbeiter, dass jetzt abgewandelt werde.

Aufklärung ist ein erster Schritt, aber nur mit Information ist Vorurteilen nicht beizukommen. Bildung insgesamt ist kein entscheidender Faktor mehr. Seit einigen Jahren nehmen auch in der gebildeten Mittelschicht Ressentiments zu. Diese sei aufgrund von Abstiegsängsten anfällig für Bedrohungsszenarien, sagt Zick. Auch zunehmende populistische Propaganda und ein Bedeutungsgewinn von traditionellen Werten spielten dabei eine Rolle.

Kritik an Diversity-Trainings

Selbst Reisen, Schüleraustausch und Programme wie Erasmus helfen nur unter Umständen. Man müsse Land und Leute intensiv kennenlernen und die Erfahrungen auch nach der Rückkehr in den Alltag integrieren können, sagt Zick. Dass das nicht so einfach ist, beweist die traditionelle Italienliebe der Deutschen, von der italienische Gastarbeiter wenig zu spüren bekamen. "Auch wenn sich gefühlt alles öffnet und internationaler wird, gibt es nicht unbedingt mehr Kontakt", sagt Zick. Zumal offene Grenzen auch das Gegenteil bewirken können: "Ähnlichkeiten und größere Nähe werden dann als Identitätsbedrohung empfunden und führen zu stärkeren Differenzierungsprozessen." Ein Effekt, der auch über die Krise hinaus antieuropäische, nationalistische Strömungen erklärt.

Anti-Bias- und Diversity-Ansätze, die enorm an Bedeutung gewonnen haben, sind kein Allheilmittel. Zumal in jüngerer Zeit Kritik an entsprechenden Trainings und der Wunsch nach Reformen aufkam. Weil sie teils realitätsfern sind, wohlmeinend das Denken in Kategorien noch zu verstärken schienen und Teilnehmer mit fragwürdigen Ansichten zueinander und damit zu gegenseitiger Bestätigung brachten. Eine breit angelegte US-Studie kam zu dem Ergebnis, dass Diversity-Trainings in der Regel "keine positiven Effekte" hätten - insbesondere dann, wenn ein innerbetrieblicher Zwang oder schlicht die Angst vor Diskriminierungsklagen der Antrieb dafür sind. Es sei abhängig davon, wie ernst es das Unternehmen meine, ob es seine Führungskräfte wirklich darauf verpflichte und die wüssten, dass sie einen Mehrwert - also etwa finanzielle Vorteile - davon hätten, meint auch Jablonski.

Der "Königsweg zum Abbau von Vorurteilen" sei der Austausch mit Menschen anderer Herkunft, sagt Zick. "Es muss zu echten Kontakten mit anderen kommen, nur nebeneinanderher zu arbeiten, nützt nichts." Dann gelingt auch der entscheidende Schritt von der Pauschalisierung der "anderen" hin zur Individualisierung: Bis jemand, der dunkelhäutig, schwul, Grieche oder was auch immer ist, eben erst einmal Michaela, Sebastian oder eben Nikos ist.

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