Die Zahl ist ein Rekordwert in der bundesdeutschen Geschichte, aber eben nicht nur Anlass zu Alarm. Im vergangenen Jahr wurden der Antidiskriminierungsstelle des Bundes 10 772 Fälle gemeldet, in denen Menschen sich über Diskriminierung bei der Arbeit beschwert haben, über Benachteiligung wegen ihrer Herkunft, wegen ihres Alters oder Geschlechts oder aus anderen Gründen. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein erheblicher Anstieg um 22 Prozent.
Der Jahresbericht 2023 der Antidiskriminierungsstelle, den die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, am Dienstag in Berlin stellte, zeigt aber auch: Immer mehr Menschen setzten sich aktiv gegen Benachteiligung zur Wehr.
Worüber haben die Menschen sich beschwert?
Die meisten Anfragen betrafen mit rund 3400 Fällen rassistische Diskriminierung, Antisemitismus oder Benachteiligung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit. Sie machten 41 Prozent aller Anfragen aus, die sich bei Beratungsstellen in ganz Deutschland gestellt wurden.
An zweitere Stelle folgten mit gut 2000 Fälle von Benachteiligung wegen einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit. Sie machten ein Viertel der Diskriminierungserfahrungen aus. Es folgte Zurücksetzung wegen des Geschlechts oder der Geschlechtsidentität. 14 Prozent der Betroffenen gaben Benachteiligung wegen ihres Alters an.
Sind die Zahlen ein steiler Anstieg?
Ja. Und die Zahl der Beschwerdefälle wächst seit Jahren kontinuierlich weiter. In den vergangenen fünf Jahren haben sie sich mehr als verdoppelt. Ataman nannte den Trend alarmierend. „Mehr Menschen als je zuvor bekommen die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung und Radikalisierung unmittelbar zu spüren“, sagte sie. „Ausländer-raus-Stimmung“ und Menschenverachtung seien normal geworden in Deutschland, nicht nur beim Feiern auf Sylt. Das größte Problem für Betroffene sei aber Alltagsdiskriminierung, mal bei der Wohnungs- oder Jobsuche, aber beispielsweise auch bei Arztbesuchen.
Wie steht es um Benachteiligung im Arbeitsleben?
Sie machte nach dem Jahresbericht 2023 mit mehr als 2600 Fällenden größten Teil der gemeldeten Diskriminierungserfahrungen aus. Auf Platz zwei folgte mit mehr als 1500 Fällen der Lebensbereich „Private Dienstleistungen und Zugang zu Gütern“. Rechnet man hier noch Diskriminationsfälle auf dem Wohnungsmarkt hinzu, dann betrifft fast ein Viertel der Anfragen den privatrechtlichen Geschäftsverkehr.
Wer bestimmt eigentlich, was Diskriminierung ist?
Benachteiligung ist in Deutschland verboten und wird nicht nur im Grundgesetz, sondern auch im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) definiert. In Paragraf 1 heißt es dort: „Ziel des Gesetzes ist es, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“.
Wie wirksam sind die Meldungen?
Mit einer Meldung ist eine Benachteiligung natürlich noch nicht behoben. Immerhin nennt das AGG konkrete Merkmale von Diskriminierung. Sind sie erfüllt, steigen die Chancen von Betroffenen bei einer Klage. Diese müssten sie selbst anstrengen. „Ein starker Diskriminierungsschutz schafft verbindliche Regeln“, sagte Ataman. Allerdings decke das Gesetz keineswegs jede Benachteiligung ab. „Der Diskriminierungsschutz im AGG gilt nicht bei Ämtern und Behörden an Schulen und Universitäten oder bei Polizei und Justiz“, sagte sie. „Mit anderen Worten: Das AGG schützt vor rassistischer Diskriminierung im Supermarkt, aber nicht im Jobcenter.“ Dabei richte sich ein Fünftel der Beschwerden, die ihr Haus erreichten, gegen Ämter, Polizei oder Justiz.
Stören solche Gesetzeslücken niemanden?
Doch. SPD, Grüne und FDP haben im Koalitionsvertrag vereinbart: „Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) werden wir evaluieren, Schutzlücken schließen, den Rechtsschutz verbessern und die Anwendungsbereiche ausweiten.“ Mitte letzten Jahres legte die Antidiskrimierungsbeauftragte ein Papier vor, in dem sie die Bundesregierung aufforderte, das Gesetz auch auf staatliche Diskriminierung auszudehnen. Außerdem will Ataman die Staatsangehörigkeit, den sozialen Status – etwa Sozialleistungsbezug – oder familiäre Fürsorgeverantwortung wie Elternschaft als Merkmal für Benachteiligung ins Gesetz schreiben lassen. Sie dringt auch auf ein Verbandsklagerecht, damit Betroffene bei offensichtlicher Diskriminierung nicht allein vor Gericht ziehen und bei einer juristischen Niederlage die Kosten tragen müssen. Umgesetzt ist allerdings nichts davon.
Woran krankt die Umsetzung?
Auf die Frage, wo es hakt bei der Reform, antwortete die Beauftragte Ataman: „Als ich vor zwei Jahren mein Amt angetreten habe, hieß es, die Reform kommt bald, da ist schon was in Arbeit. Und dann wurde ich im Grunde immer wieder vertröstet.“ Ihr Haus frage regelmäßig bei Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) nach. Dort heiße es dann immer, die AGG-Reform werde noch evaluiert. Sie könne nicht ausschließen, so Ataman, „dass da eine gewisse Verschleppungstaktik dahintersteckt“.
Wie sieht es in anderen EU-Ländern aus?
Deutschland habe eines der schwächsten Antidiskriminierungsgesetze Europas, kritisierte Ataman. Es sei „veraltet“ und erst 2006 zustande gekommen, auf Druck aus Brüssel. In Frankreich etwa gelte der soziale Status von Menschen als mögliches Merkmal für Diskriminierung – etwa wenn eine Person eine Wohnung nicht bekomme, weil sie auf staatliche Stütze angewiesen sei. In Belgien gelte Ähnliches. Für Deutschland habe sie ein Gutachten in Auftrag gegeben, wie eine entsprechende Reform rechtssicher umsetzbar sei, „wenn man denn wollte“, so Ataman.