Fotografie:Unpraktisch, unansehnlich - und cool

Fotografie: So sah der Fortschritt 2010 aus. Jetzt sind solche Kameras wieder begehrt.

So sah der Fortschritt 2010 aus. Jetzt sind solche Kameras wieder begehrt.

(Foto: imago stock&people/imago stock&people)

Digitalkameras wurden durch Smartphones fast verdrängt. Doch jetzt begeistern sich junge Menschen für Technik, die fast so alt ist wie sie selbst. Was steckt hinter dem Retrotrend?

Von Simon Hurtz

Man muss nur 20 Jahre lang das Gleiche anziehen, dann wird es wieder schick. Hüfthosen und bauchfreie Tops waren Anfang des Jahrtausends cool, galten dann als Modesünde - und sind jetzt zurück. Der Kreislauf des Kapitalismus umfasst nicht nur Kleidung, sondern auch Technik. Die Retrowelle hat ein längst vergessen geglaubtes Gadget angespült: Digicams. Jugendliche und junge Erwachsene fotografieren mit Kompaktkameras, die fast so alt sind wie sie selbst.

Der Trend lässt sich in Zahlen festmachen. Auf Instagram und Tiktok wurden Fotos und Videos mit Hashtags wie #digitalcamera und #digicam Hunderte Millionen Mal angeschaut. Charlie D'Amelio, Bella Hadid und andere Influencerinnen teilen verpixelte Bilder, die Hunderttausende Likes erhalten. In den Kommentaren wird über die besten Kompaktkameras diskutiert, manche Tiktoker haben Dutzende Modelle getestet und geben Kaufberatungen.

Die Objekte der Begierde heißen Nikon Coolpix L15 oder Canon Powershot SD1300 und werden längst nicht mehr hergestellt. Wer im Keller die alte Kamera der Eltern findet, kann froh sein. Andere Teenager suchen auf Ebay, Etsy und über Kleinanzeigen. Alle Portale registrieren seit etwa einem Jahr eine deutlich gestiegene Nachfrage. Es werden mehr gebrauchte Kameras angeboten, für bestimmte Modelle haben sich die Preise verdoppelt.

Vintage ist hip, bei Schallplatten oder Sofortbildkameras liegt der Mehrwert auf der Hand - im Wortsinn. Vinyl und Polaroidfotos kann man sammeln und kultivieren. "Digital ist besser", sangen Tocotronic einst, für alte Digitalkameras gilt das nicht. Die Fotos rauschen, Farben wirken ausgewaschen, der gleißende Blitz überstrahlt Details. Unpraktisch sind sie auch - kennt noch jemand den Unterschied zwischen SD-, SDHC- und SDXC-Speicherkarten?

Wer Anfang des Jahrtausends aufwuchs, empfindet die Ästhetik der frühen Digitalfotografie als authentisch

Jedes Smartphone macht bessere Bilder, ist handlicher und kann die Aufnahmen direkt bei Instagram und Tiktok teilen. Genau deshalb schwärmt ein Teil der Gen Z für Retrokameras. Handyfotos werden von Software schöngerechnet und aufgehübscht, das Ergebnis ist fast perfekt - und ein bisschen steril. Menschen über 30 nehmen Fotos aus ihrer Jugend als Pixelbrei wahr, wer heute jung ist, empfindet die Ästhetik als authentisch. Es braucht keinen Filter, um sich abzuheben, die Bilder stechen aus der Hochglanzoptik sozialer Medien heraus, weil sie Makel haben.

Digicams produzieren keine Handyfotos, vor allem sind sie keine Handys. Das Kameradisplay blinkt nur dann, wenn Akku oder Speicherplatz knapp werden, es gibt weder Likes noch Nachrichten. Das Gegenstück zu alten Kameras sind deshalb Klapphandys, die nur als Telefon taugen. Dieses Duo ist das Digital Detox der Gen Z und hilft beim Abschalten - allerdings bloß vorübergehend, schließlich müssen die Retrobilder mit Freunden geteilt werden. Dafür braucht es dann doch wieder Social Media.

Smartphones sind Fotokameras, Ablenkungsmaschinen und Arbeitsgeräte. Cool ist das nicht, eher überfordernd. Vielleicht ändert sich das in 20 Jahren, wenn Menschen mit Headsets in der virtuellen Realität abhängen. Dann sind Handys die neuen Digitalkameras: eigentlich nutzlos und genau deshalb wunderbar entspannend.

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