Digitalisierung:"Wir brauchen eine digitale Aufklärung"

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Chinesische Grundschüler werden mit den Möglichkeiten der Digitalisierung, wie z.B. der Virtuellen Realität, früh vertraut gemacht. (Foto: REUTERS)

Der renommierte Informatiker Christoph Meinel beklagt Deutschlands zögerlichen Umgang mit der Digitalisierung. Dabei biete dieses "Neuland" so viele Chancen - und nicht nur China ist schon auf der Überholspur.

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Kriege, Klimawandel, Flüchtlinge, kaputte Schulen - die Bundesregierung muss mit größten Herausforderungen kämpfen. Die SZ befragt Experten, was diese von der Politik in dieser Welt voller Großaufgaben erwarten. Den Anfang machte der Politikwissenschaftler Herfried Münkler; ihm folgten unter anderem die Sozialexpertin Jutta Allmendinger und der Autoexperte Stefan Bratzel. Nun spricht Christoph Meinel, Direktor des Potsdamer Hasso-Plattner-Instituts, über die dramatischen Veränderungen, die die Digitalisierung für unser ganzes Leben mit sich bringen wird.

SZ: Herr Meinel, alle Welt spricht über sie - mal mit großen Hoffnungen, mal mit Misstrauen: die Digitalisierung. Was ist das eigentlich?

Christoph Meinel: Digitalisierung ist in der Menschheitsgeschichte etwas ganz Neues. Als das Rad erfunden, die Pyramide erbaut, die Landmaschine geschaffen wurde, fand das immer im Rahmen unserer physikalischen Welt statt. Unter den Gesetzen der Schwerkraft und der Mechanik. So wie wir das kannten. Wir waren also vorbereitet. Die Erfahrung lehrte uns, dass die Überwindung von Entfernungen Anstrengung bedeutete, Kraft erforderte und Zeit. Die Menschen wussten, dass sie nicht zeitgleich an verschiedenen Orten Wirkungen erzielen können. Durch die Digitalisierung änderte sich das, es kam eine zweite Ebene mit ganz anderen Gesetzmäßigkeiten ins Spiel.

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Eine zweite Ebene?

Wir können über virtuelle Verbindungen Wirkungen am anderen Ende der Welt erzielen. Wir können sekundenschnell Informationen über Zustände dort bekommen und darauf reagieren, auch wenn das ganz weit weg ist. Wir können das; andere können es aber auch bei uns. Das stellt uns vor ganz neue Möglichkeiten und neue Herausforderungen. Und keiner kann uns den Weg weisen, wie wir damit umgehen.

Wie meinen Sie das?

Bislang konnten wir immer schauen, wie es die Eltern gemacht haben. Oder die Großeltern. Wir ahnten, was nötig war, damit wir schneller werden und von der Kutsche aufs Auto umsteigen konnten. Es war klar, dass man dafür breitere, stärker befestigte Wege braucht und mehr Energie für den Antrieb. In der virtuellen Welt gibt es das alles nicht. Wir können niemanden fragen, wie man damit umgeht, in Lichtgeschwindigkeit am anderen Ende der Welt etwas auszulösen. Wie man damit umgeht, dass Daten, die einmal in der Welt sind, nicht wieder gelöscht werden können. Wir wissen es nicht und müssen das mühsam erlernen. Es gibt keine evolutionäre Vorbereitung. Wir bewegen uns in einer Welt, in der wir alle gemeinsam experimentieren. Deshalb fand ich es schon infantil, als man vor einigen Jahren die Kanzlerin auslachte, als sie vom "Neuland" sprach. Es ist genau das: Neuland. Und wird es auch noch für die nachfolgenden Generationen bleiben.

Macht Ihnen das Ungewisse Angst?

Aber nein. Das ist eine tolle, spannende Zeit. Es ist so, als würde man einen neuen Kontinent entdecken und das Ende der Entdeckungsreise nur in Umrissen erahnen. Wir kommen allmählich in ein Stadium, in dem sich nicht nur ein paar Freaks und Experten dafür interessieren, sondern alle anderen dazukommen. Das regt manche der Pioniere auf, die bislang fröhlich alleine unterwegs waren. Plötzlich wollen alle mitmachen.

Was bedeutet das?

Dass nicht mehr das Recht des Stärkeren gelten kann. Zivilisation ist dazu da, dass jeder sein Recht bekommt, nicht nur die Starken, hier ein paar frühe Experten. So weit sind wir allerdings noch nicht. Aber wir müssen dorthin kommen. Die Mechanismen und Regeln der Zivilisation müssen auch in den virtuellen Raum einziehen.

Wie soll das gehen?

Zunächst müssen wir uns fragen, was wir mit Gesetzen gestalten wollen. Da gibt es verschiedene Ansätze. Die einen versuchen, alle Regeln aus der analogen, alten Welt eins zu eins in die neue Welt zu übersetzen. Ein sehr enger Ansatz, der einen großen Haken hat: Er zieht die neuen Möglichkeiten nicht in Betracht. Ein anderer Ansatz lautet: Wir warten ab, bis wir wissen, wie alles läuft - und entscheiden dann, wo wir welche Regeln einziehen wollen. Das ist auch nicht befriedigend, weil in der neuen Welt längst handfeste Dinge passieren, die dringend Umgangsformen und Regeln brauchen. Nehmen Sie nur das Online-Shopping. Da wird gehandelt und Geld getauscht, das muss geregelt werden.

Insbesondere im ordnungsliebenden Deutschland.

Genau. Hierzulande gibt es leider den sehr starken Wunsch, gleich alles perfekt zu regeln. Am besten, bevor man sieht, wie das überhaupt läuft und was passiert. Damit wird von vornherein viel Innovation abgewürgt. Andere machen es umgekehrt: Sie schauen erst, was möglich ist. Und entscheiden dann.

Wie würden Sie das machen?

Ich fürchte, man kann nicht A oder B sagen. Mit den neuen Möglichkeiten stellen sich immer wieder neue Fragen; also müssen wir immer neu nachdenken und entscheiden, ob und wie wir etwas regeln wollen. Mal machen wir das in Deutschland sehr adäquat, manchmal wie eine große Bremse.

Wie will man auch etwas regeln, das schon morgen ganz anders sein kann?

Viele Situationen sind offen, das stimmt. Deswegen rate ich Politikern immer, in alle Gesetze eine Experimentierklausel einzubauen, um Erfahrungen sammeln zu können und nicht gleich endgültige Beschlüsse zu fassen. Es ist wichtig, dass Regulierung stattfinden muss. Aber die Regulierung darf auf keinen Fall zu starr sein, sonst blockieren wir uns und schneiden uns ab von den Segnungen der neuen Welt.

Kann ein Nationalstaat in dieser neuen Welt überhaupt alleine Regeln setzen?

Das ist ein großes Problem, und es ist für Staaten eine ganz neue Erfahrung. Bisher wurden internationale Fragen durch internationale Absprachen geregelt. Das aber braucht noch viel mehr Zeit als nationale Gesetzgebung. Also brauchen wir auch hier neue Lösungen. Es gibt ja jede Menge Probleme: Was ist im digitalen Raum erlaubt? Was ist verboten? Wo werden im digitalen Raum erwirtschaftete Gewinne versteuert? Wo findet die digitale Wertschöpfung eines Unternehmens statt? Alles drängende Fragen, auf die es heute noch keine fertigen Antworten gibt.

Nicht alle denken wie die Deutschen. Die USA überlassen alle Daten Privaten; China dagegen hat alle Daten verstaatlicht, um die Entwicklung zu steuern. Ist das ein Wettlauf der Systeme?

Eindeutig ja. Dahinter steht ein riesiger Wettbewerb; es geht darum, was wir aus den neuen Möglichkeiten machen. Aus der Rechenleistung, die uns zur Verfügung steht; aus den Daten, die wir gewinnen können. Es geht um die wirtschaftliche Erschließung und Besetzung des neuen digitalen Kontinents. Unternehmen und Forschungsinstitutionen versuchen, in diesem neuen Raum Geschäftsideen zu entwickeln. Wir in Deutschland und Europa sind dabei aber längst nicht so gut wie die Genannten.

Warum nicht?

Vielleicht weil es uns zu gut geht und viele Menschen gar nicht so einen großen Bedarf an Fortschritt haben. Veränderungen erzeugen Unsicherheit und machen Angst. Andere Länder, die nicht über den Wohlstand verfügen, sind gieriger. Sie sehen die Digitalisierung als ihre große Chance, um aufzuschließen und uns vielleicht sogar zu überholen.

Welche Länder meinen Sie?

Vor allem China, Indien, aber auch andere Staaten in Asien und Südamerika.

Und die USA?

Der angelsächsische Raum mit einem mehr freiheitlichen Gesellschaftsmodell ist traditionell offener für Innovationen. Daher auch die vielen erfolgreichen Geschäftsideen von dort. Sie probieren aus. Sie suchen andauernd selbst ihr Glück. Und das mit der unglaublich wichtigen Einstellung, dass man mit einer Idee auch mal scheitern kann. Wie viele spätere Milliardäre haben am Anfang Dinge in den Sand gesetzt? Und dann kamen eben doch die zündenden Ideen und mit ihnen der Erfolg. Der Unterschied zu früher ist nur, dass das in der digitalen Welt rasend schnell und mit globaler Resonanz geht. Dass man nicht nur Ideen schnell in neue Produkte und Dienstleistungen verwandeln kann, sondern auch Kunden weltweit und binnen Sekunden erreichen kann. Und dass dadurch auch sehr schnell Monopole entstehen.

Monopole hat es immer gegeben.

Schon richtig. Solche Effekte gab es auch in der frühen Phase der Elektrifizierung, mit Konzernen wie General Electric und Siemens. Aber selbst in den USA wird mittlerweile die Frage gestellt, wer Unternehmen wie Amazon, Google oder Apple noch bändigen kann. Gleichzeitig sind das die wirtschaftlich innovativsten Lokomotiven, die wir auf der Welt haben. Ob Alibaba in China oder eben Google in den USA.

Sie sind Ergebnis einer irrsinnigen Dynamik. Können sie genauso schnell verschwinden, wie sie gekommen sind? Können sie selbst bald zu Dinosauriern werden?

Es gibt bei technischen Entwicklungen immer heiße Phasen, denen eine Abkühlung folgt. Gerade sind wir in einer sehr heißen Phase. Denken Sie nur an die verschiedenen Rechengeräte, die man zuhause hatte und alle paar Jahren ersetzt werden mussten. Mit dem Cloud-Computing kommt es hier zu einer Konsolidierung. Die Rechner verschwinden wie hinter einem Vorhang und müssen uns Nutzer nicht mehr beschäftigen. Damit müssen sich nur noch die Profis befassen. Wir alle können dank Internet und Cloud darauf bauen, an jedem Ort auf die Rechenkraft und Speichermöglichkeiten zuzugreifen, die wir gerade brauchen.

Welche Folgen hat das?

Ich brauche nur noch ein Anzeigegerät, keinen PC mehr, der alles selbst rechnet. Ich brauche nur noch mein Smartphone. Die Rechner-Entwicklung, die uns bislang beschäftigt und auch immer etwas verunsichert hat - dass sich die Speichermedien ändern, Betriebssysteme, Anwendungsprogramme, Architekturen - das betrifft uns nun nicht mehr. Wenn Sie an die Anfangsphase zurückdenken: Da hatten wir alle einen PC zu Hause, der den Zugang zur virtuellen Welt gewährte. Der Computer war nach drei Jahren nicht mehr aktuell, und nach fünf Jahren musste er ausgetauscht werden. Da gab es große Disketten, kleine Disketten, CD-Roms und Sticks - all das verliert heute radikal an Bedeutung. Der Nutzer klickt - aber wo die Daten herkommen, über welche Internetverbindung sie laufen und mit welchen Programmen auf welchem Rechner sie ausgewertet werden, das muss ihn nicht mehr interessieren.

Ist das die eigentliche Revolution?

Ich vergleiche das gerne mit der Entwicklung der Dampfmaschine. Als die erfunden wurde, sind anfangs regelmäßig Menschen gestorben, weil ein Kessel explodiert ist. Im übertragenen Sinne sind wir heute noch in der Phase, wo der Kessel ab und zu noch explodiert. Wo Datenskandale hochkochen oder andere Dinge. Da kommen zwar Menschen nicht mehr zu Tode, aber zu Schaden. In dieser Phase sind wir jetzt.

Das impliziert, dass uns eine "normale Phase" bevorsteht, in der alles gut ist. Aber die geheimnisvolle Cloud, die alle Rechenleistungen vollbringt - ist das nicht der radikale Verlust letzter Privatheit? Ist das nicht der moderne George Orwell?

Langsam. Rechenzentren gab es schon immer, von Anfang an. Die vielen Daten sind etwas Neues. Wir fangen erst an, zu lernen und zu verstehen, was mit den massenhaft entstehenden und verfügbaren elektronischen Daten möglich ist, die es vor der Digitalisierung nicht gab. Noch bevor Sie nur eine einzige E-Mail versenden können, sind die elektronischen Systeme schon zigmal im Austausch gewesen, damit Ihre E-Mail auch ankommt. Das sind alles Daten, die eine Information in sich tragen. Und es sind Daten, die wir brauchen, damit der E-Mail-Dienst überhaupt funktionieren kann. Die Frage ist, was wir mit all diesen Daten machen. Überspitzt ist die deutsche Sicht: Bedrohung. Die amerikanische Sicht heißt: Herausforderung und Chance. Und die chinesische lautet: Brauchen wir, um an die Weltspitze zu kommen.

Und wie sehen Sie das?

Ich würde mir wünschen, dass Deutschland auch in der neuen Zeit die führende Rolle spielt, die es heute im ausgehenden Industriezeitalter spielt. Aber die Karten werden neu gemischt. An China sieht man das sehr deutlich. Es sind gerade auch die digitalen Technologien, die China zu dem neuen Wohlstand verhelfen. Wenn wir Europäer nicht aufpassen, sind wir in diesem Rennen nicht mehr dabei.

Hat die Bundesregierung das verstanden? Agiert sie adäquat?

Die Kanzlerin hat das verstanden, besser als viele andere Politiker. Ihr hilft, dass sie aus den Naturwissenschaften kommt und eine Vorstellung hat, wie das technisch funktioniert. Bei uns hier in Deutschland gibt es aber ein anderes Problem, dass dazu führt, dass Politiker nicht mehr offen sprechen: Sie haben Angst, ins moralische Kreuzfeuer zu geraten. Also halten sie lieber den Mund. Und das ist nicht gut.

Was meinen Sie?

Über die Medien werden zu bestimmten Themen nicht mehr nur Informationen, sondern sofort auch Meinungen verbreitet und verfestigt. Und die orientieren sich oft nicht am aktuellen Stand der Entwicklung, sondern an der moralischen Bewertung durch den Autor. Fakten sind da nicht mehr so wichtig. Und das bremst ausgerechnet bei diesem Thema die notwendigen produktiven Debatten, die wir dringend bräuchten.

Zum Beispiel?

Beim Thema Datenschutz ist die verbreitete Meinung: Wir sind die einzigen, die das richtig ernst nehmen mit dem Schutz der Bürger. Die Amerikaner und Chinesen dagegen sind die Bösen. Das führt dazu: Wer bei uns die neuen europäischen Regeln als in verschiedenen Belangen zu eng kritisiert, gilt sofort als einer, der nicht das vermeintlich Gute will. Weil er den Datenaustausch nicht genauso kritisch sieht. Dadurch hat sich in Deutschland das Meinungsspektrum so eingeengt, wie ich das weder in den USA noch in China noch sonst wo wahrnehme. Eigentlich müsste es dringend um Sachdiskussionen gehen, die mit moralischen Urteilen zunächst einmal nichts zu tun haben. Aber hierzulande redet fast jeder nur über mögliche Gefahren.

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Sind Sorgen nicht berechtigt?

Doch natürlich. Und man muss in Debatten natürlich auch ethische Grundsätze einbringen. Aber meist wird das sofort in Schubladen gepackt mit der Aufschrift gut oder böse.

Ist das typisch deutsch?

Es ist schon ein besonders deutsches Phänomen. In Amerika ist die Bandbreite der Diskussion viel größer. Keiner versteht heute, was mit den Daten alles gemacht werden kann oder soll, welche Potenziale da noch sind. Wenn ich das sehr früh mit gut und böse belege, dann trauen sich Bürger und Politiker nicht mehr, offen darüber nachzudenken und das Für und Wider zu diskutieren. Sie trauen sich erst recht nicht mehr, etwas gegen den schnell verfestigten gesellschaftlichen Mainstream zu sagen.

Hat die Affäre um Facebook und Cambridge Analytica nicht alle bestätigt, die große Vorbehalte vorbringen?

Diese Geschichte ist natürlich hochproblematisch und muss aufgeklärt werden. Verheerend ist aber etwas Anderes: Es ist seit vielen Jahren klar, dass da ein riesengroßer Konzern entstanden ist, mit riesigen Rechnerinfrastrukturen, der seinen Service kostenlos anbietet. Jeder kann das Geschäftsmodell sofort erkennen. Denn die einfache Antwort auf die Frage, wer das alles bezahlt, lautet: Die Daten der Nutzer sind die Gegenleistung. Ich selbst bin nicht bei Facebook. Aber die, die einerseits nach Datenschutz rufen und sich erregen, andererseits aber mit all ihren Daten so leichtfertig umgehen, die schalten ihre eigene Verantwortung aus und dürften sich eigentlich nicht beschweren.

Wie kommt man da raus?

Wir brauchen eine digitale Aufklärung, Aufklärung durchaus verstanden im historischen Sinne. Die Aufklärung war nach dem Absolutismus die Geburtsstunde der Bürgergesellschaft. Wenn Bürger wählen und eigenverantwortlich ihr Schicksal in die Hand nehmen sollen, dann brauchen sie dafür eine solide Grundbildung. Wir brauchen heute etwas Ähnliches für das Verständnis der digitalen Welt.

Woher soll diese Aufklärung kommen? Die historische Aufklärung kam aus dem Gefühl heraus, etwas Neues, Besseres erreichen zu wollen. Den Menschen jetzt geht es aber mit der analogen Welt eigentlich ganz gut.

Daher kommen die Ängste, dass etwas Neues die Dinge verschlechtern könnte. Es ist Aufgabe der Politik und der Eliten, hier die Menschen wachzurütteln und mitzunehmen. Die Digitalisierung lässt sich nicht zurückschrauben. Ich sage immer: Meine Pension - das wird noch funktionieren. Aber ihr, liebe Studenten, eure Pension - um die habe ich Angst, wenn ich die ganze Ambivalenz und das Zögern rund um die Digitalisierung sehe. Einerseits haben die Menschen Angst davor, andererseits verhalten sie sich viel zu sorglos und unvernünftig.

Sind Ihre Studenten nicht risikobereit genug?

Da wandelt sich gerade was. Vor zehn Jahren stieß die Gründung eines Startups oft auf erheblichen Widerstand auch in der eigenen Familie. Es fehlten Vorbilder, gerade im Osten Deutschlands. Zugleich gab es Vorbehalte gegen Unternehmer und das Reichwerden. Aber all das hat sich geändert. Mittlerweile ist es angesagt, ein Startup zu gründen. Es gibt sogar eine Art gesellschaftliche Ansteckung. Einer fängt an, dann wollen andere es ihm nachmachen. Aber wir liegen immer noch weit hinter den USA zurück. Das hat auch mit Mentalitäten zu tun.

Zum Beispiel?

Nur ein Beispiel zum Datenschutz. Für Amerikaner ist es so: Sie betrachten ihren Namen als das öffentlichste, was es gibt. Sie verlangen aber eine Garantie dafür, dass Daten, die elektronisch verschickt werden, auch in der gleichen Form ankommen, in der sie abgeschickt wurden. Wenn bei einem ärztlichen Notfall eine Blutgruppe durchgegeben wird, dann darf die auf ihrem Weg durchs Internet nicht abgeändert werden. Und dann fangen sie an, Neues zu bauen. Das Thema Datenintegrität - davon hat man in der deutschen Diskussion über die Datensicherheit noch nichts gehört. Dabei ist das genauso wichtig wie die Frage der Privacy, der Privatheit. Und hierzu gibt es dann ein tiefes Nachdenken und strenge Kontrollmechanismen. Gebaut ist dann allerdings immer noch nichts. Da gibt es in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Schwerpunkte.

Im Augenblick entstehen zwei Dinge gleichzeitig: Zum einen Start-Ups, die sehr schnell sehr reich werden; zum anderen wächst der Niedriglohnsektor. Gehört das eine zum anderen dazu?

Es war noch nie so leicht, ohne irgendwelche Voraussetzungen ein neues Produkt zu entwickeln und großflächig auf den Markt zu bringen. Früher brauchte man dazu eine Fabrikhalle, Maschinen, Kapital. Heute kann das jeder mit seinem Laptop. Das ist ein Befreiungselement. Es zeigt aber auch, wo die Dynamik herkommt, denn heute kann das jeder überall auf der Welt. Früher brauchte man ein Stahlwerk, um ein neues Auto zu entwickeln. Heute nimmt man den 3-D-Drucker. Das geht überall. Das zeigt, wie groß weltweit die Konkurrenz ist, und belegt, dass Unruhe angebracht ist.

Und was ist mit dem neuen Prekariat der Fahrradboten und Dienstleister?

Wichtig ist für jeden Einzelnen: Kann ich mich von meiner Arbeit ernähren. Das ist etwas, worum die Gesellschaft sich kümmern muss. Aber sie muss sich nicht darum kümmern, ob und wie schnell jemand reich wird oder wie viel ein Vorstand verdient. Das ist wieder eine typisch deutsche Diskussion und ich weiß nicht, woher die kommt, wo es doch hier vielen so gut geht, wie in kaum einem anderen Land.

Vielleicht daher, dass viele dieser erfolgreichen Modelle darauf beruhen, dass irgendwelche armen Würstchen ihre Dienste zur Verfügung stellen - die dann bei Uber Taxi fahren oder für Deliveroo und andere Essen transportieren.

Das ist tatsächlich alles noch nicht ausgereift. Auch wie die Länder darauf reagieren, welche Anforderungen an Versicherungsschutz sie stellen, wie die Märkte sich entwickeln, welchen Schutz es für Arbeitnehmer gibt. Wir erleben die ersten Ideen, die wirklich disruptiv sind. Airbnb ist dafür ein gutes Beispiel. Wie aber mit solchen Veränderungen in der Arbeitswelt umgegangen werden soll, muss in der Gesellschaft breit erprobt und diskutiert werden, das ist die große Herausforderung bei der Digitalisierung.

Aber es gibt in unserem Land auch eine Sozialverpflichtung des Eigentums. Wie soll ein Unternehmer, der mit seiner Dienstleistung nur noch indirekt verbunden ist, dieser sozialen Pflicht nachkommen?

Das ist auch eine Fragen, auf die wir noch keine Antwort haben. Da müssen wir dringend ran. Allerdings dürfen wir diese Fragen nicht so stellen, dass sie allen Fortschritt verhindern.

Nehmen wir Amazon: Hier kämpfen Mitarbeiter seit Monaten um Rechte. Würden Sie sagen, da ist der Staat gefordert? Oder müssen wir uns damit abfinden?

Und wieder: Wir verstehen das noch nicht genau. Die Modelle sind noch jung, wir sehen erst langsam die Auswirkungen in vollem Umfang. Die Gesellschaft muss sich fragen, will sie das, will sie das nicht? Gibt es systematische Probleme, die wir angehen müssen? Manche fordern jetzt schon ein bedingungsloses Grundeinkommen, aber das ist keine Option für mich. Hier sollen Menschen auf die einfachste Art ruhiggestellt werden. So funktionieren Menschen nicht. Arbeit erfüllt, stiftet Sinn. Sein Brot und seinen Urlaub selbst zu verdienen, ist ein befriedigendes Gefühl. Stattdessen wird mit einem Grundeinkommen alles beim Staat abgeladen. Soll der sich kümmern. Nein hier ist die Gesellschaft gefordert, Lösungen für ein menschenwürdiges und sinnerfülltes Leben zu finden.

Entsteht durch das Internet mehr Demokratie? Oder festigt das Internet im Gegenteil autoritäre Regimes?

Da werden mir zu schnell Etiketten vergeben. Das Internet erlaubt einen fast unbeschränkten Zugang zu Information. Ob und wie er genutzt wird, ist unklar. Ich habe eine andere, sehr große Sorge: Dass sich durch die Filterblasen im Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz Vorurteile in einem Maße verstärken, wie wir das als gebildete und neuzeitliche Menschen nicht für möglich halten. Die Maschine ist dabei nicht das Problem, sondern wie wir damit umgehen.

Es gibt neben dem Megathema Digitalisierung noch ganz andere Herausforderungen. Fragen wie die sozialen Spannungen im Land, außenpolitische Krisen, der Klimawandel, die Migration. Was treibt Sie jenseits der Digitalisierung am meisten um?

Die entstandene Unordnung in der Welt. Alle waren dankbar, als der Kalte Krieg vorbei war. Aber was wir da inzwischen erleben in einer Welt, in der keiner mehr weiß, auf wen er sich in welchem Umfang noch verlassen kann, führt zu einer unglaublichen Destabilisierung. Das kann gefährlich werden.

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