Digitalisierung:"Deutschland ist, denkt und handelt zu kompliziert"

Digitale Verwaltung

Infektionszahlen per Fax: Bei der Digitalisierung der Verwaltung hinkt Deutschland weit hinterher.

(Foto: Imago/Collage:SZ)

Die Corona-Pandemie hat das gewaltige Defizit bei der Modernisierung des Staates offenbart. Experten bezweifeln, dass ein eigenes Digitalisierungsministerium die Lösung wäre. Ein Blick in andere Länder zeigt, was wirklich hilft.

Von Peter Fahrenholz, München

Manchmal haben Katastrophen auch etwas Gutes. Sie können auf einen Schlag Defizite aufdecken und einen Handlungsdruck erzeugen, der nur dann zustande kommt, wenn allen bewusst wird, dass es so nicht weitergehen kann. Die Corona-Pandemie hat gnadenlos offengelegt, wie groß der Rückstand Deutschlands bei der Digitalisierung der Verwaltung auf allen Ebenen des Staates ist. Schulen ohne Wlan, Gesundheitsämter, die ihre Infektionszahlen per Fax weiterleiten, Impftermine per Telefonhotline, eine Warn-App, die sich als weitgehend untauglich erwies, als sie dann endlich mal fertig war.

In der öffentlichen Wahrnehmung der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP dominieren im Moment das Thema Klimaschutz und die nach wie vor offene Frage, wie die mutmaßliche neue Ampel-Regierung ihre Pläne eigentlich finanzieren will. Doch die Verhandler haben schon im ersten Punkt ihres Sondierungspapiers unter der Überschrift "Moderner Staat und digitaler Aufbruch" deutlich gemacht, dass das Thema auf ihrer politischen Agenda ganz oben steht - endlich, könnte man sagen.

Denn dass Deutschland bei der Digitalisierung seiner Verwaltung hoffnungslos hinterherhinkt, ist seit Langem bekannt, spielte aber in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle. In allen einschlägigen internationalen Rankings belegt die Bundesrepublik seit Jahren einen der hinteren Plätze. So findet sich Deutschland im "Digital Economy and Society Index" (Desi) der EU-Kommission nur auf Platz 21 von 28 untersuchten Nationen unter der Rubrik "eGovernment".

Vernichtendes Zeugnis für die Politik

Zwar wollen laut einer repräsentativen Forsa-Studie, die im Auftrag der FDP-Fraktion seit 2018 jedes Jahr durchgeführt wird, 86 Prozent der Befragten Online-Dienstleistungen künftig nutzen. Aber eine große Mehrheit zweifelt daran, dass dies in absehbarer Zeit auch klappen wird. Zwei Drittel der Bundesbürger glauben, dass es erst in zehn oder 20 Jahren möglich sein wird, den Großteil der Verwaltungsleistungen online zu erledigen. Für die Politik ist das ein vernichtendes Zeugnis.

Wie berechtigt diese Skepsis ist, zeigt sich bei der schleppenden Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG), das im August 2017 in Kraft getreten ist. Dort wurde festgelegt, dass insgesamt 575 Verwaltungsleistungen von Bund, Ländern und Kommunen bis Ende 2022 deutschlandweit digital angeboten werden sollen. Gelungen ist das aktuell nur für 16 Leistungen, die Zielmarke 2022 sei "nicht mehr zu schaffen", heißt es im aktuellen Bericht des Nationalen Normenkontrollrates.

Dieses unabhängige Beratergremium der Bundesregierung zum Bürokratieabbau, das 2006 geschaffen wurde und dem zehn ehrenamtliche Mitglieder angehören, bewertet den Digitalisierungsfortschritt regelmäßig. Die Berichte lassen sich auf den ernüchternden Nenner bringen, dass zwar überall guter Wille vorhanden ist, die komplexen föderalen Strukturen und unzureichende personelle Ressourcen sich aber lähmend auswirken. "Deutschland ist, denkt und handelt zu kompliziert", heißt es in einer Stellungnahme des Normenkontrollrates vom September. Die Kontrolleure haben sich für das Schneckentempo bei der Digitalisierung die Wortschöpfung einfallen lassen, Deutschland sei "mütend" - müde und wütend.

Jetzt besteht zum ersten Mal seit vielen Jahren die Chance, dass sich das ändert. "Das Thema ist auf die politische Agenda gekommen", sagt die Verwaltungswissenschaftlerin Thurid Hustedt, die an der privaten Hertie School in Berlin lehrt. Hustedt hat vor wenigen Wochen zusammen mit 22 weiteren Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Verwaltung und verschiedenen Innovationsprojekten ein Positionspapier veröffentlicht, in dem ein "grundlegender Kulturwandel in der öffentlichen Verwaltung" und eine Öffnung gegenüber der Gesellschaft gefordert wird.

Der Geist des alten Obrigkeitsstaates

Das siebenseitige Papier beschreibt acht Handlungsfelder für die nächste Bundesregierung. Von der Veränderung der internen Arbeitsprozesse über die Schaffung einer gemeinsamen Systemarchitektur für die IT, die über gemeinsame Standards und Schnittstellen "offen und frei" allen Verwaltungsebenen zur Verfügung stehen soll, bis zu einer wirksamen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Vorhaben. Auch die Sprache der Verwaltung, die mit den Bürgern kommuniziere, "als seien diese unerzogene, zu bevormundende Kinder", müsse sich ändern. Hier wirkt noch immer der Geist des alten Obrigkeitsstaates nach. "Das ist nicht mehr zeitgemäß und gehört verändert", sagt Hustedt.

Klar ist, dass es bei der Modernisierung des Staates nicht nur um die Digitalisierung von Dienstleistungen geht. "Der Blick, was Digitalisierung bedeutet, muss sich weiten", sagt Hustedt. Es gehe darum, in der Verwaltung eine Fehlerkultur zu entwickeln und ähnlich wie in der Privatwirtschaft "Innovationseinheiten zu schaffen, in denen anders gearbeitet und gedacht wird". Auch personell müsse sich die Verwaltung öffnen, mehr Kompetenz von außen sei notwendig.

Dass es für einen solchen schwierigen Kulturwandel massive politische Unterstützung braucht, liegt auf der Hand. Wo die versprochene Modernisierung des Staates in einer Ampel-Koalition politisch und organisatorisch aufgehängt werden soll, ist noch unklar. Vor allem die FDP hat schon bei den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen vor vier Jahren für die Schaffung eines neuen Digitalisierungsministeriums plädiert.

Was auf den ersten Blick angesichts der Fülle an Aufgaben logisch erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als problematisch. Der Normenkontrollrat spricht sogar von einer "Scheindebatte", die den Blick auf die eigentlichen Herausforderungen versperre. Der Verwaltungswissenschaftler Gerhard Hammerschmid, der ebenfalls an der Hertie School lehrt, sieht das genauso. Der Österreicher hat die Frage, ob ein eigenes Digitalisierungsministerium die richtige Lösung ist, unter einem internationalen Blickwinkel untersucht. Dabei zeigt sich, dass in Europa nur Polen, Griechenland und Luxemburg ein solches Ministerium haben. Alle drei Länder belegen im Desi-Ranking hintere Plätze. Weltweit hat unter den Ländern, die vorn liegen, nur Singapur ein eigenes Digitalisierungsministerium.

Die europäischen Vorreiter bei der Digitalisierung sind einen anderen Weg gegangen. Sie haben das Thema einem starken klassischen Ministerium zugeordnet, meist dem Wirtschafts- oder dem Finanzministerium. Und haben dann etwas getan, was Experten für viel wichtiger halten als die politische Zuordnung: für die Umsetzung schlagkräftige, personell gut ausgestattete Digitalisierungsagenturen geschaffen.

Ein eigenes Ministerium? Dauert zu lange

Hammerschmids Untersuchung zufolge lässt sich "nicht erkennen, dass sich ein Digitalisierungsministerium positiv auf den Digitalisierungsfortschritt eines Landes auswirkt". Der Hauptnachteil sei, "dass man sehr lange braucht, um so ein Ministerium aufzubauen", sagt er. Digitalisierung ist eine Querschnittsaufgabe, es müssten aus allen Ressorts erst einmal Kompetenzen und Personal verlagert werden. Damit würde wieder wertvolle Zeit verstreichen.

In Deutschland ist die politische Zuständigkeit für die Digitalisierung bisher zweigeteilt. Die Verwaltungsdigitalisierung liegt beim Innenministerium, die Digitalpolitik beim Kanzleramt. Hammerschmid plädiert dafür, die politische Zuständigkeit künftig beim Finanzministerium zu bündeln. Denn über das Budget habe man den Hebel in der Hand, um die notwendigen Aufgaben zu steuern.

Und diese müssten dann von einer "starken Digitalisierungsagentur, die Standards setzt und prüft, ob sie eingehalten werden", umgesetzt werden, sagt Hammerschmid. Eine solche Agentur müsse 200 bis 300 Mitarbeiter haben. Und sie solle am besten als GmbH konstruiert werden und dann als Inhouse-Agentur der Bundesregierung arbeiten. Wichtig sei auch, diese Agentur nicht im zuständigen Ministerium unterzubringen. Es müsse deutlich werden, dass hier etwas Neues entstehe, mit einer attraktiven Ausstrahlung für die gesamte Verwaltung. "Jeder, der was werden will, muss da mal eine Zeitlang gearbeitet haben."

Auch der Normenkontrollrat plädiert für eine solche Digitalisierungsagentur mit einem Personalbestand von mehreren Hundert Leuten und ausreichenden finanziellen Ressourcen. Ob sich die Ampel zu einem derart radikalen Neubeginn aufraffen wird oder sich wieder im föderalen Gestrüpp verheddert, muss sich in den nächsten Wochen zeigen. Hammerschmid ist optimistisch. "Das ist ein einmaliges Gelegenheitsfenster", sagt er, "wann, wenn nicht jetzt?"

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