Digitalisierung:Auf los geht's nicht los

Gesundheit digital: Was Sie zur E-Patientenakte wissen müssen

"Dieses Zeitfenster wollen und müssen wir nutzen": Die Krankenkassen begrüßen die Einführung der elektronischen Patientenakte.

(Foto: Halfpoint/dpa)

Rezepte per Handy, digitaler Impfpass, keine Doppeluntersuchungen mehr, kein Warten auf Arztbriefe per Post - die elektronische Patientenakte soll viel können. Die Frage ist nur, ob das je Wirklichkeit wird.

Von Nina Bovensiepen und Henrike Roßbach

Warten zu können, gilt ja gemeinhin als Tugend. In den vergangenen Wochen und Monaten jedenfalls gab es reichlich Gelegenheit, sich darin zu üben: Zum traditionellen Warten aufs Christkind kam das neuartige Warten auf den Impfstoff hinzu. Auch der Bundesgesundheitsminister wartete auf das Vakzin - doch für Jens Spahn (CDU) geht in diesen Tagen noch eine andere, ungleich längere Wartezeit zu Ende: die auf die elektronische Patientenakte. Deren Geschichte begann vor ungefähr 16 Jahren - also noch vor dem ersten Spatenstich für einen gewissen Flughafen in Berlin und zu einer Zeit, als Spahn noch nicht einmal gesundheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion war.

Am 1. Januar soll die elektronische Patientenakte, kurz ePA, nun aber tatsächlich eingeführt werden, und in Zeiten von Corona und Kontaktbeschränkungen klingt das fast wie ein Heilsversprechen: Denn im Idealfall sollen Patienten sich dank des digitalen Mammutprojekts am Ende manche Untersuchung und manche lange Arzttournee sparen können. 200 000 Leistungserbringer im Gesundheitswesen und bis zu 73 Millionen Versicherte sollen über die ePA vernetzt werden - es ist das bislang größte IT-Projekt des deutschen Gesundheitswesens.

In der praktischen Anwendbarkeit bleibt die Akte weit hinter den Erwartungen zurück

Die Idee: Die digitale Akte speichert alle Befunde eines Patienten. So kann beispielsweise jede behandelnde Ärztin einer Schwerkranken einsehen, welche Medikamente sie bekommt, welche anderen Mediziner sie behandeln und wie der Heilungsverlauf ist. Zugleich können Versicherte steuern, auf welche Daten Ärzte zugreifen dürfen. Wenn jemand nicht möchte, dass der Orthopäde, mit dem er auch Tennis spielt, sehen kann, dass er in psychiatrischer Behandlung ist, verschließt er diesen Teil der Akte für andere.

Im Gesundheitsministerium sieht man es so, dass am 1. Januar ein Versprechen eingelöst wird, das vor 16 Jahren gegeben wurde. Das "Herzstück der Digitalisierung im Gesundheitswesen" sei die elektronische Patientenakte, heißt es aus dem Haus von Minister Spahn: das elektronische Rezept, der digitale Impfpass, keine Doppeluntersuchung mehr, keine lange Suche nach dem letzten Blutbild, keine Arztbriefe per Post: All das soll die ePA künftig möglich machen.

Mit diesem "künftig" allerdings ist dann auch schon das Problem beschrieben. Denn vieles von dem, was die ePA leisten soll, wird auch nach dem 1. Januar noch bloße Theorie und Zukunftsmusik bleiben. Denn in ihrer praktischen Anwendbarkeit bleibt die elektronische Patientenakte auf absehbare Zeit weit hinter den Erwartungen zurück. "Der Nutzwert ist anfangs wirklich bescheiden", sagt die Grünen-Abgeordnete Maria Klein-Schmeink. So werde am Anfang nur "eine Handvoll Ärztinnen und Ärzte technisch in der Lage sein, die ePA zu befüllen".

Die neue Akte soll ein "lernendes System" sein

Auch aus Kreisen des Gesundheitsministeriums heißt es, dass man etwa den digitalen Impfpass - Stichwort: Covid-19-Impfung - gerne schon jetzt hätte. Losgehen aber werde es nur "Zug um Zug", die Akte sei "ein lernendes System", das sich weiterentwickeln werde. Zum 1. Januar werde die ePA "natürlich noch nicht komplett fertig" und "nicht perfekt" sein, erst nach und nach werden tatsächlich all die Anwendungen möglich sein, die das Leben von Patientinnen und Patienten, Ärztinnen, Apothekern und anderen Akteuren im Gesundheitswesen leichter machen soll. Mit einer höheren zweistelligen Millionenzahl an Nutzern im kommenden Jahr wäre man im Ministerium schon zufrieden, vor allem weil gerade ältere Versicherte mit Gesundheitsdaten eher vorsichtig seien.

Außer dem Fakt, dass weder Ärzte noch Patienten sofort einen großen Mehrwert bemerken werden, droht noch von anderer Seite Ungemach: Spahn liegt seit Langem im Dauerclinch mit dem Bundesbeauftragten für Datenschutz, Ulrich Kelber (SPD). Und der Streit ist alles andere als gelöst. Spahns "störrische Rechthaberei" könne der Akzeptanz der ePA deutlich schaden, so Klein-Schmeink von den Grünen.

Der Hintergrund: Kelber vertritt die Auffassung, dass die elektronische Patientenakte in der Startvariante gegen Europarecht verstößt. Sie genüge nicht dem Datenschutz. Er hat deshalb den 65 Krankenkassen, für die seine Behörde zuständig ist, im November geschrieben, dass sie sich strafbar machten, wenn sie die Akte in der vorgesehenen Form anböten. Er droht mit "aufsichtsrechtlichen Maßnahmen" oder "Untersagungen". Für die Kassen ist das eine missliche Lage. Sie sind zwischen die Fronten geraten.

Konkret geht es Kelber darum, dass Patienten den Zugriff auf ihre Akte zunächst nicht so steuern können, dass Ärzte nur das einsehen können, was dezidiert für sie freigegeben wurde. Dieses Feintuning soll erst 2022 kommen. Vorher gilt das Prinzip "Alles oder nichts".

Für Kelber ist ein "dokumentengenaues Berechtigungsmanagement für alle Nutzenden eine zwingende Voraussetzung für die Einführung der elektronischen Patientenakte". Darauf habe er früh hingewiesen, es sei "unbegreiflich", dass dies nicht so komme und die Akte damit "europarechtswidrig sein wird", sagte er der SZ.

Kelber reibt sich noch an zwei weiteren Punkten. Nummer eins: Das Authentifizierungsverfahren, mit dem Versicherte die Akte verwalten, hält er für nicht sicher genug. Nummer zwei: Die von 2022 verbesserten Steuerungsmöglichkeiten könnten nur Patienten nutzen, die Smartphones oder Tablets besitzen und von diesen Geräten aus ihre Akte verwalten.

Die Grünen werfen dem Minister von der CDU unverständliche Sturheit vor

Manche Beobachter vermuten, dass hinter dem Streit um die technischen Dinge schlicht ein politischer Konflikt zwischen dem Sozialdemokraten Kelber und dem Christdemokraten Spahn steht: dass der eine am Digitalisierungs-Modernisierer-Image des anderen kratzen will, ein paar Monate vor der Bundestagswahl. Grünen-Politikerin Klein-Schmeink indes findet das sture Festhalten von Spahn am "politisch gesetzten" Einführungstermin unverständlich, angesichts der Schmalspurversion der ePA, die jetzt kommt. Aus Kreisen des Gesundheitsministeriums heißt es dagegen, erst zu starten, wenn alles perfekt sei, sei in der Vergangenheit der Fehler gewesen. Mit diesem Ansatz gehe es "nie los".

Beim Spitzenverband der Krankenkassen will man eher die Chancen der ePA-Einführung sehen - bevor im Herbst neu gewählt wird. "Dieses Zeitfenster wollen und müssen wir nutzen, um diesen großen Schritt für die Verbesserung der Patientenversorgung endlich zu machen", sagt der Sprecher des GKV-Spitzenverbands, Florian Lanz. Rückendeckung für die Kassen kommt vom Bundesamt für soziale Sicherung, das die Aufsicht über alle bundesweiten Krankenkassen hat. In einem Schreiben von Ende November wies das Amt darauf hin, dass es die Sichtweise des Datenschutzbeauftragten nicht teile. Sollte der Konflikt sich zuspitzen, müsse eine gerichtliche Klärung die "Ultima Ratio" sein. Es sei zu hoffen, dass es dazu nicht komme. Schließlich gehe es bei der ePA nicht um "abstrakte Rechtspositionen", sondern um "die Weiterentwicklung der Digitalisierung im Gesundheitssystem". Das große Heilsversprechen eben.

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