DigitalisierungTaugt die elektronische Patientenakte in der Praxis?

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Gesundheitsminister Karl Lauterbach erwartet sich von der Einführung der elektronischen Patientenakte den Anbruch „eines neuen Zeitalters“.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach erwartet sich von der Einführung der elektronischen Patientenakte den Anbruch „eines neuen Zeitalters“. (Foto: Kay Nietfeld/picture alliance/dpa)

Die ePA werde das Leben von Patienten und Hausärztinnen vereinfachen, die Medizin verbessern und Geld sparen, versprach Gesundheitsminister Lauterbach. Stimmt das? Eindrücke aus drei Praxen, die schon mit der Akte arbeiten.

Von Michaela Schwinn, München

Manchmal sitzt Hausarzt Matthias Hempel jetzt mit der Stoppuhr vor seinem Computer. Sechs bis neun Sekunden dauert es, bis sich die elektronische Akte eines Patienten öffnet. Er scrollt rauf und runter, klickt mal hier, mal da. Man könnte sagen, er prüft die Akte auf Herz und Nieren. Schließlich soll sie bald in allen deutschen Arztpraxen zum Einsatz kommen. Als eine von 230 Pilotpraxen darf Hempel die neueste digitale Errungenschaft im Gesundheitswesen schon vorab testen: Wo hakt die Technik, wie praktikabel ist sie im oft hektischen Praxisalltag? Und interessieren sich die Patienten überhaupt dafür?

Die elektronische Patientenakte, kurz ePA, ist ein Mammutprojekt: Von der ersten Idee bis zur Testphase, die seit Mitte Januar in drei Bundesländern läuft, dauerte es zwei Jahrzehnte. Dass sie nun bald flächendeckend eingeführt werden soll, bezeichnet Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) als „Beginn eines neuen Zeitalters“. Fortan können Patienten dann per Knopfdruck ihre gesamte Krankengeschichte einsehen und diese mit Medizinern teilen. Ordner voller ausgedruckter Arztbriefe und CDs mit MRT-Aufnahmen, die Patienten händisch von Arzt zu Arzt tragen mussten, sollen damit Geschichte werden.

Nur so schnell, wie sich Lauterbach das vorgestellt hat, ging es dann doch nicht. Eigentlich sollte die elektronische Akte schon seit ein paar Tagen in allen Arztpraxen laufen. Aber die Testphase wurde verlängert – weil die Technik noch hakt und Sicherheitslücken geschlossen werden müssen. Erst im Dezember zeigten IT-Experten des Chaos Computer Club, wie einfach die ePA gehackt werden kann. Neuer Starttermin laut Ministerium: frühestens Anfang April.

Die Vorteile der Akte würden überschätzt, sagt Hausarzt Marc Metzmacher

Vorausgesetzt, dass bis dahin alles reibungslos funktioniert. Denn nicht wenige Testpraxen kämpfen immer noch mit technischen Problemen. Jana Husemann, eine Hausärztin in Hamburg, ist jedes Mal überrascht, wenn in ihrem System eine ePA auftaucht. „Herzlichen Glückwunsch“, sagt sie dann manchmal zu ihren Patienten. „Sie sind einer der Glücklichen.“ Auch vier Wochen nach Start der Testphase werden ihr nur vereinzelt elektronische Akten angezeigt, obwohl inzwischen für jeden gesetzlich Versicherten – der nicht widersprochen hat – von den Krankenkassen eine solche Akte angelegt worden ist. „Dass wir die ePAs nicht einsehen können, liegt an unserer Praxissoftware“, sagt Husemann. Sie wartet nun auf neue Updates.

Warten musste auch Marc Metzmacher. Der Allgemeinmediziner aus Gunzenhausen konnte in den ersten drei Wochen der Pilotphase nur wenige ePAs in seinem System finden: „Das war kein Testbetrieb bisher.“ Überhaupt würden die Vorteile der neuen Akte überschätzt, findet Metzmacher. Da Patienten selbst entscheiden können, welche Befunde auf der Akte landen, und diese auch löschen können, wisse man als Arzt nie, ob sie vollständig sei. „Für uns ist die ePA daher kaum nutzbar. Deshalb gehe ich davon aus, dass sie im normalen Betrieb untergehen wird.“

Ganz anders klingt es hingegen, wenn man mit Matthias Hempel spricht. Seine Praxis in Detmold konnte pünktlich zum Start der Testphase loslegen. Inzwischen habe er schon fast 800 elektronische Patientenakten befüllt, sagt Hempel stolz. Die ePA ist zunächst leer, wie ein „Buch mit weißen Seiten“, sagt er. Nach und nach laden Hausärzte, Fachärzte sowie Kliniken dann immer mehr Befunde auf die Akte. In den vergangenen Tagen speicherte Hempel mal Blutwerte, mal Ultraschallergebnisse oder einen Arztbrief in die ePAs seiner Patienten. Zudem landen alle Medikamente, die über ein E-Rezept verschrieben wurden, automatisch in der Akte.

Die meisten Patienten interessieren sich kaum für die Akte

Nur mit alten Dokumenten ist es so eine Sache: Die Praxen sind nämlich nicht verpflichtet, Altbefunde nachzutragen. Entweder der Patient lädt diese selbst hoch oder er bringt sie in Papierform zu seiner Krankenkasse – diese muss bis zu zehn Befunde im Jahr für ihre Versicherten in die ePA übertragen. „Anfangs wird der Nutzen der ePA noch gering sein“, sagt Hempel, „aber mit jedem Monat wächst die Anzahl der Befunde.“ Bis die digitale Patientenakte aber wirklich optimal genutzt werden kann, ist es noch ein weiter Weg. Bisher gleicht sie eher einer Ansammlung von PDF-Dokumenten, die zwar beschriftet, aber nicht durchsucht werden können. Eine Volltextsuche ist geplant, aber erst fürs Frühjahr 2026.

Und die Patienten selbst? Die interessierten sich kaum oder gar nicht für die neue Akte, berichten alle drei Hausärzte. „Das wundert mich sehr“, sagt Jana Husemann. „Wir sind eine Innenstadtpraxis in St. Pauli mit vielen jungen Patienten. Aber mich hat noch fast keiner darauf angesprochen.“ Nach dem Hack des Chaos Computer Club habe sie sich darauf eingestellt, viel aufklären zu müssen, aber auch da: „Keine einzige Nachfrage.“

Ob Patienten der ePA bald mehr abgewinnen können, wird sich wohl erst in den kommenden Monaten und Jahren herausstellen. Dann wird sich auch zeigen, ob sich durch die Akte unnötige Doppeluntersuchungen oder gefährliche Wechselwirkungen zwischen Medikamenten vermeiden lassen, wie Befürworter sagen. Hausarzt Hempel jedenfalls hatte schon ein Erfolgserfolgserlebnis: Als er neulich einer Patientin Ibuprofen gegen ihre Rückenschmerzen verschreiben wollte, warf er vorher noch einen Blick in ihre elektronische Patientenakte. Dort sah er, dass der Orthopäde ihr bereits Voltaren gegen Knieschmerzen aufgeschrieben hatte. „Beide Medikamente zusammen sind nicht nur Blödsinn, sondern können durchaus Probleme machen“, sagt Hempel. „Ohne die ePA wäre das tatsächlich untergegangen.“

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