Digitale Medien:Augen auf

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Selbstgesehenes ist oft nicht halb so interessant wie aufs Smartphone gelieferte Fertigbilder. Das direkte Sehen verkümmert - für Filmemacher eine Herausforderung.

Von Edgar Reitz

Seit ich Filme mache, beschäftigt mich, wie unser Sehsinn funktioniert. Sind unsere Augen kleine biologische Kameras und ist das Gehirn ein Bilderarchiv, in dem optische Wahrnehmungen ähnlich wie in einem Videorekorder gespeichert werden? Diese Annahme erweist sich als rettungslos naiv, wenn man als Filmemacher erlebt, wie unterschiedlich ein Film wahrgenommen wird. Man muss sich damit abfinden, dass der Zuschauer nicht objektiv wahrnimmt, was wir ihm auf der Leinwand erzählen, sondern dass jeder nur sieht, was er mit eigenen Erfahrungen bestätigen kann. Der Satz, dass ein Film im Kopf des Zusehers entsteht, dass also jeder seinen eigenen Film sieht, bewahrheitet sich in immer neuen Formen des Missverstehens.

Dies trifft nicht nur auf das Erleben von Filmen zu, es scheint ein grundsätzliches Problem unseres Verhältnisses zur sichtbaren Welt zu sein. Was sehen wir überhaupt; wie wird die Realität beim Verarbeiten des auf die Netzhaut projizierten Lichtes vom Gehirn verstanden? Gibt es einen Unterschied zwischen dem direkten Sehen und dem medial vermittelten Sehen technisch hergestellter Bewegtbilder?

Kürzlich habe ich den Vortrag einer Wissenschaftlerin erlebt, der sich mit der Anatomie der Sehnerven befasst. Die Referentin zeigte ein Video von einer blühenden Rose. Ihre Frage an das Publikum, was es hier zu sehen gebe, wurde einstimmig mit "eine Rose" beantwortet. Als die Referentin dann eine reale Rose in die Hand nahm, wurde ihre Frage, was das sei, wieder unisono mit "eine Rose" beantwortet. Wie sich beides unterscheide? Die erste Rose sei rot und die zweite gelb, so das Publikum. Keinem war aufgefallen, dass es sich beim ersten Objekt um das projizierte Abbild einer Rose handelte, während das zweite eine reale Rose war. Als drittes Objekt wurde dann die kolorierte Zeichnung einer Rose aus einem botanischen Lehrbuch gezeigt. Hier waren sich alle im Saal sofort einig, dass es sich um eine Zeichnung handelte, die eine Rose darstellt.

Warum dieser große Unterschied der Wahrnehmung zwischen den Darstellungsmedien Video und Zeichnung? Offensichtlich liegt es nicht am verschieden hohen Grad von Realismus, denn die botanische Zeichnung war sogar detaillierter als das relativ unscharfe Video vom Beginn. Aber das Bild, das mit Hilfe eines Objektivs hergestellt wird, suggeriert dem Gehirn offenbar ein vertrauteres Bild als die handwerklich hergestellte Zeichnung, mit der man Arbeit und Akribie assoziiert. Fotografien werden unbewusst der Direktwahrnehmung der Augen zugeordnet.

Mir fällt dabei ein, dass die ersten Kinozuschauer am Ende des 19. Jahrhunderts schreiend aus dem Saal gerannt sein sollen, als ihnen auf der Leinwand ein Zug entgegenkam. Was die frühe Fotografie nur andeutungsweise vermochte, war durch die Erfindung des Bewegtbildes zur täglichen Erfahrung geworden: Durch immer perfektere Wiedergabe und eine inflationäre Verbreitung sind bewegte Bilder unserer physiologischen Direktwahrnehmung so vertraut und der Realität so ähnlich geworden, dass Menschen sie zu den Primärerfahrungen zählen und die reale Welt mit der Welt der Bilder vertauschen. Niemand kann bislang erklären, wie es in den Hirnzentren dazu kommt, dass wir ein scheinbar kohärentes Wirklichkeits-bild empfangen und wie bei dieser in Sekundenbruchteilen ablaufenden Wahrnehmung die Erinnerungen, Assoziationen und Begriffsbildungen den Inhalt des Sehens überlagern. Vielleicht ist es auch für unser tägliches Handeln nicht so wichtig, diese Geheimnisse zu lösen. Es genügt zu wissen, dass es kein objektives Sehen gibt und dass die meisten Menschen keinen Unterschied zwischen dem direkten Anblick wirklicher Dinge und ihrer medialen Abbilder machen. Beide Formen werden gleichrangig als Information betrachtet. In der gewaltigen Ausdehnung unserer Weltwahrnehmung durch den immer globaleren Konsum werden Bilder das eigentliche Medium der Erfahrung.

Die medialen Bilder haben die Herrschaft übernommen. Man muss sich nicht mehr vom Ort bewegen, muss nicht für das Dabeisein bezahlen. So kam es, dass die Bilder das direkte Sehen ersetzt haben. Der Mensch lebt in einer medialen Bilderwelt und erlebt oft genug, dass Selbstgesehenes nicht halb so interessant ausfällt wie fertig ins Haus oder aufs Smartphone gelieferte Bilder. Die analoge Welt der biologischen Augen muss sich an der viel attraktiveren Welt der digitalen Bilder messen. Die Bildmedien, zu denen natürlich auch der Kinofilm gehört, sind eine Art Sehprothese geworden, mit der Folge, dass die Fähigkeit zum direkten Sehen verkümmert.

Die logische Folge ist, dass uns die wirkliche Welt immer unbekannter wird. Hier setzt meine Ausgangsfrage nach der Natur des Sehens an: Sollte das Sehen nicht eigentlich etwas ganz Persönliches sein? Ist es für uns überhaupt wichtig, dass wir uns in einer Welt wiederfinden, die mit unserer eigenen, unverwechselbaren Biografie untrennbar verbunden ist? Brauchen wir eine sichtbare mit unseren eigenen Sinnen erfasste Heimat? Heimat im Sinne eines Raumes, den wir selbst gestalten können und dessen Bilder wir auch emotional verstehen? Mein eigener Versuch, in meinen Filmen den "natürlichen Blick" wieder herzustellen, endete mit einem unlösbaren Widerspruch. Denn selbst wenn ein Film wie "Heimat" den Zuschauern lebensnah erscheinen mag, muss man doch betonen, dass er in einer fiktionalen Erzählung zu Hause ist. Diesen Unterschied zu vermitteln, gelingt kaum mehr. Auch meine Zuschauer eigneten sich die Welt des fiktiven Dorfes Schabbach in "Heimat" als Ersatzwirklichkeit an und hielten ihre subjektiven Netzhautimpulse für echte Signale der Zeitgeschichte.

Jedes medial vermittelte Bild ist manipuliert. Niemand der Produzenten kann sich auf objektive Wahrheit berufen. Schon die Entscheidung, überhaupt eine Kamera einzusetzen, ist die Entscheidung zu bestimmen, was wichtig sei und welcher Blickwinkel der richtige ist.

Seit Jahren wird gefordert, dass Medienkompetenz in den Schulen vermittelt werden müsse, damit ein kritischer Umgang mit den Bildmedien zu mehr Eigenständigkeit führt. Ich fürchte allerdings, dass Kritikvermögen allein nicht genügt. Nur die uralte Neugier der eigenen Augen kann uns helfen, dass wir das Foto einer Rose nicht mehr mit der wirklichen Rose verwechseln.

Edgar Reitz, 86, ist Filmemacher in München.

© SZ vom 16.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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