Digitale Gesundheitsakte:Im Zwiespalt der Gesetze

Bayerische Ärzte und Psychotherapeuten kritisieren Jens Spahns Gesetz zur digitalen Versorgung. Bei dem heiklen Umgang mit Patientendaten fühlen sie sich "im Stich gelassen".

Von Rainer Stadler

In einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kritisiert die Kassenärztliche Vereinigung Bayern die "unglaubliche Serie von Pannen" bei der Einführung der Telematikinfrastruktur (TI) im Gesundheitswesen. "Mit größter Sorge" habe die Ärztevertretung vernommen, dass es Mitgliedern des Chaos Computer Clubs gelungen sei, sich Zugangsberechtigungen für die TI zu beschaffen. Zu Verunsicherung unter Ärzten und Psychotherapeuten hätten auch Recherchen von Süddeutscher Zeitung und NDR vor einigen Wochen geführt, wonach die Patientendaten in den meisten Praxen nicht ausreichend geschützt seien. Zudem liege für die neue Infrastruktur noch immer keine Abschätzung der Datenschutzfolgen vor. Zuständig dafür sei die Betreibergesellschaft Gematik, an der das Bundesgesundheitsministerium eine Mehrheitsbeteiligung hält.

Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern sieht Praxisbetreiber in einem Interessenskonflikt. Minister Spahn hat ihnen per Gesetz vorgeschrieben, sich an die neue Datenautobahn für das Gesundheitswesen anzuschließen. Andernfalls drohen Honorarabschläge von einem und demnächst sogar 2,5 Prozent. Wer sich aber an die TI anbinde, verstoße gegen den gesetzlichen Datenschutz und riskiere eine Geldbuße.

Jens Spahn will alle Arztpraxen an das verschlüsselte Netz für Gesundheitsdaten anschließen

Ärzte und Psychotherapeuten in Bayern fühlten sich durch "stetig wachsende, immer komplexer werdende Anforderungen in Hinsicht auf IT-Ausstattung und TI-Anbindung überfordert und im Stich gelassen", heißt es in dem offenen Brief. Angesichts der Unklarheiten und technischen Probleme erscheine es als "kaum möglich, hochsensible Patientendaten und das vertrauliche Arzt-Patienten-Verhältnis wirkungsvoll zu schützen". Deshalb erwarte die Ärztevereinigung, "dass die Honorarkürzungen für die Ärzte und Psychotherapeuten, die nicht an die TI angeschlossen sind, unverzüglich ausgesetzt werden".

Das fordert auch der Verein "Freie Ärzteschaft", dem nach eigener Auskunft etwa 2000 niedergelassene Haus- und Fachärzte in ganz Deutschland angehören. Er moniert, die Datenschutzfolgenabschätzung hätte bereits vor Einführung der TI stattfinden müssen. "Gelten die Datenschutzgesetze für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn etwa nicht?", fragt Silke Lüder, Vizechefin des Vereins. Lüder bezeichnet die Sanktionen gegen Ärzte, die ihre Praxis nicht an die TI anbinden, als "rechtswidrige Erpressung".

Festgeschrieben ist die Verpflichtung der Ärzte im Gesetz zur digitalen Versorgung, das der Bundestag vor zwei Monaten verabschiedet hat. Spahn will Apotheken, Krankenhäuser und die 176 000 Arztpraxen in Deutschland an das verschlüsselte Netz für Gesundheitsdaten anschließen. Die Ärzte müssten in den Digitalakten der Patienten dann Befunde, Röntgenbilder oder Impfausweise hinterlegen. Ab Januar 2021 sollten nicht nur Ärzte, sondern auch die Patienten selbst ihre Akte einsehen können, etwa mit dem Smartphone. Künftige Patienten würden "keinen Arzt mehr ernst nehmen, der nur noch über Karteikarten arbeitet", hatte Spahn geäußert. Wegen der aktuellen Sicherheitsmängel der TI wolle er sich demnächst mit Vertretern des Chaos Computer Clubs zusammensetzen, sagte er dem Tagesspiegel.

Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern wendet sich nicht grundsätzlich gegen die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Sie kritisiert jedoch, Spahn setze auf Zeitdruck und Zwangsmaßnahmen statt auf Überzeugungsarbeit und gute Argumente. Der Schutz von Patientendaten werde so "dem Streben nach einer möglichst hohen und rasch zu erreichenden Anschlussquote an die TI geopfert".

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