Süddeutsche Zeitung

Dieter Hildebrandt über die Pogromnacht 1938:"Es war einfach passiert"

Dieter Hildebrandt war elf Jahre alt, als die Juden seiner Heimatstadt Bunzlau Opfer des nächtlichen Pogroms wurden. Der Kabarettist erinnert sich an die verstörende Kulisse am Morgen danach - und an die Erklärung, die die Lehrer den Schülern vorsetzten.

Protokoll: Oliver Das Gupta

Dieter Hildebrandt ist der Nestor des deutschen Polit-Kabaretts. Geboren wurde er 1927 im niederschlesischen Bunzlau (Bolesławiec). Dort erlebte er die Auswirkungen des von den Nazis initiierten Pogroms, bei dem in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 überall in Deutschland Synagogen in Flammen aufgingen, Juden geschlagen, beraubt und getötet wurden. Für SZ.de erinnert sich Hildebrandt an den Gewaltexzess vor 75 Jahren.

"Dass etwas nicht stimmte, habe ich erst am Morgen danach gemerkt. Ich war mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Schule und kam am Bekleidungsgeschäft von Herrn Rosenthal vorbei. Dort war ich immer eingekleidet worden, Herr Rosenthal war ein sehr liebenswürdiger Mann. Nun war sein Geschäft verwüstet.

Etwas weiter, beim Laden von Herrn Silbermann, bot sich ein ähnliches Bild. Geschirr lag auf der Straße. Außerdem hat die Synagoge gebrannt.

Parolen waren nirgendwo hingeschmiert, ich sah weder Fahnen, noch irgendwelche Täter. In unserer kleinen Stadt lief das Pogrom ohne Aufmarsch ab. Es war einfach passiert.

Ich war verstört und rätselte, was vor sich ging. Bunzlau war damals eine evangelisch geprägte Kleinstadt mit etwa 22.000 Einwohnern. Es war ein Ort, in dem ich bis dahin keine antisemitischen Reizwellen mitbekommen hatte. Bis zu eben jenem Morgen im November 1938.

Als ich dann zur Schule kam, lauteten unter uns Schülern die große Fragen: Warum brennt die Synagoge? Was ist passiert?

Dann kamen die Lehrer und sorgten für die Antworten. Sie erklärten uns, was Propagandaminister Joseph Goebbels als Verlautbarung in Auftrag gegeben hatte: Nämlich, dass es zu 'spontanen' judenfeindlichen Aktionen im ganzen Reichsgebiet gekommen sei wegen des von einem jüdischen Jungen erschossenen deutschen Diplomaten. Dass der Pogrom als Protest des Volkes gegen die Juden verstanden werden müsste.

Ich habe diesen Tag nie verstanden - im Grunde genommen verstehe ich ihn bis heute nicht."

Hildebrandt wurde 1943 Flakhelfer, kurz vor Kriegsende zog ihn die Wehrmacht ein - Kanonenfutter für Hitlers untergehendes Regime. Hildebrandt überlebte knapp (hier die Schilderung seiner Soldatenzeit). Nach dem Krieg ließ sich der Schlesier in Bayern nieder und begann seine Karriere als Kabarettist.

Wenige Tage nach der Aufzeichnung dieses Gesprächs ist Hildebrandt nach einer schweren Krankheit gestorben.

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