Diesel-Skandal:Die Politik hat das Vertrauen der Bürger verspielt

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Irgendwann ist das Vertrauen der Bürger in die Aufklärungsfähigkeit der Politik aufgebraucht

(Foto: Getty Images)

Warum kann es sich die Autoindustrie leisten, ökologische und politische Vorgaben zu ignorieren? Die Bundesregierung lässt sich von einer einzelnen Branche am Nasenring durch die Manege führen - das ist gefährlich.

Von Carolin Emcke

Der Philosoph Georg Simmel schrieb in seiner "Soziologie" im Jahr 1908: "Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der völlig Unwissende kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen." Wir wissen zwar nicht, wie eine Person agieren, wie eine Technik funktionieren oder wie ein Prozess ablaufen wird, aber wir haben keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln.

Wir verlassen uns darauf, dass etwas geschehen (oder nicht geschehen) wird. Ich vertraue, dass mein Nachbar mit meinem Wohnungsschlüssel mir nicht die Bude ausräumt, ich vertraue, dass die Anästhesistin, die mich vor der Operation in Narkose versetzt, mich wieder aufwachen lässt, ich vertraue, dass die Statik des Gebäudes, in dem ich wohne, für meine ausufernden Bücherregale stabil genug ist. Das Vertrauen ist für Georg Simmel eine "Hypothese künftigen Verhaltens", keine Gewissheit, aber eine zuversichtliche Annahme, "um praktisches Handeln darauf zu gründen."

Nun ist dieses Vertrauen nicht nur in privaten Verhältnissen von Belang. Auch eine Demokratie kann ohne Vertrauen ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht bestehen. Im günstigsten Fall existiert eine unaufgeregte, aber nicht unvernünftige Gelassenheit gegenüber den demokratischen Institutionen und ihren Versprechen. Eine Art Reservoir an Vertrauen, dass die Justiz sich als unabhängige Instanz begreift oder die öffentliche Verwaltung neutral agiert, dass die Polizei ihrer Schutzfunktion nachgeht oder die Bundeswehr sich als Parlamentsarmee an jene Aufgaben hält, die vom Bundestag beschlossen werden.

Der Demokratie zu vertrauen, heißt allerdings nicht, sie unkritisch zu begleiten oder sie nicht auch haftbar zu machen für Missstände. Das Reservoir an Vertrauen ist angreifbar. Es lässt sich verringern oder auffüllen durch Erfahrungen, die das Vertrauen als begründet oder unbegründet, als rational oder naiv vorführen. Einzelne Vergehen und strukturelle Schwächen schüren sozialen und politischen Unmut, sie fordern auch zu Protesten und zivilem Widerstand heraus.

Aber das Vertrauen in die rechtsstaatliche Ordnung und die Demokratie kann, zahlreichen bitteren und schmerzlichen Erfahrungen zum Trotz, resilient bleiben. Bis zu einem gewissen Punkt. Bis es betrogen und belogen wird, bis es lächerlich wirkt, mit dieser "Hypothese künftigen Verhaltens" durch die Welt zu spazieren.

Bei anderen ist das Depot an demokratischem Zutrauen in die Aufklärung des Abgasskandals in der Autobranche vermutlich schon früher aufgebraucht gewesen. Bei mir erst jetzt. Nachträglich erscheint mir mein Glaube, dieses Ensemble aus Betrug und Manipulation werde nicht nur juristisch aufgeklärt, sondern auch in all seinen Facetten politisch aufgearbeitet, regelrecht fahrlässig. "Wir bauen unsere wichtigsten Entschlüsse auf ein kompliziertes System von Vorstellungen, deren Mehrzahl das Vertrauen, dass wir nicht betrogen sind, voraussetzt," schreibt Simmel in seiner "Soziologie". "Dadurch wird die Lüge in modernen Verhältnissen zu etwas viel Verheerenderem, die Grundlagen des Lebens viel mehr infrage Stellendem, als es früher der Fall war."

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