Die SPD vor dem Parteitag:Sozialdemokratische Einheitspartei

Stimmenverluste, Kritik, Mitgliederschwund: Wie, um Bebels Willen, konnte es zu dieser Honeckerei, zu dieser Fehlerignoranz in der SPD kommen?

Franz Walter

Franz Walter, 53, ist Professor für Parteienforschung an der Universität Göttingen.

Die SPD vor dem Parteitag: Dresden rüstet sich für den Parteitag der SPD: Die SPD erscheint als demokratische Organisation gründlich deformiert. Hier kann es für Gabriel nur Bruch und Neuanfang geben, nicht jedoch eine Kontinuität der Ära Schröder-Müntefering.

Dresden rüstet sich für den Parteitag der SPD: Die SPD erscheint als demokratische Organisation gründlich deformiert. Hier kann es für Gabriel nur Bruch und Neuanfang geben, nicht jedoch eine Kontinuität der Ära Schröder-Müntefering.

(Foto: Foto: dpa)

Man pflegt Demokratien dafür zu loben, dass sie über innere Kräfte zur Selbstkorrektur verfügen. Denn Demokratien besitzen durch das Wahlrecht, die Pressefreiheit, das Recht auf freie Vereinigung et cetera Seismographen für die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit im Volk.

Gehen etwa die Stimmen für eine Partei gewaltig zurück, artikuliert sich in der öffentlichen Meinung massive Kritik, wenden sich Mitglieder in Massen ab, dann zeigt das dem Führungspersonal an, dass irgendetwas nicht stimmt. In Demokratien liegen die Defizite offen - dies im Unterschied zu Diktaturen, wo unfreie Wahlen, Mitgliedschaftszwang und eine autoritär gegängelte Presse alle Malaisen verschleiern sollen.

Keine ringenden Debatten, keine aufgewühlten Versammlungen

So jedenfalls kann man es, knapp und kurz gefasst, in Lehrbüchern zur "Einführung in die Demokratie" nachlesen. Aber was hat sich dann in den vergangenen elf Jahren in der deutschen Sozialdemokratie ereignet? Die Krisenindikatoren konnten zahlreicher nicht sein.

Die Partei erlebte einen Exodus an Mitgliedern, der historisch einzigartig ist. Sie verlor an Wählern in einem Ausmaß, das ebenfalls singulär in der bundesdeutschen Geschichte steht. Sie büßte in den Bundesländern rund vier Fünftel ihrer Regierungsressorts ein.

Die Hälfte der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter - mehr als hundert Jahre die Treuesten der Treuen im Anhang der SPD - entfernte sich aus dem sozialdemokratischen Wahlkörper.

Bei den Deutschen im Berufseintrittsalter hat die FDP die SPD mittlerweile überflügelt. Im erwerbstätigen Teil der Bevölkerung hat in diesem Jahrzehnt eine veritable Massenabwanderung von der SPD stattgefunden. Allein die Rentner halten die SPD noch über der 20-Prozent-Marke.

Unsinn im Stakkato

Das alles hat sich nicht erst am Bundestagswahlsonntag im September 2009 abgespielt. Es hat einen zehnjährigen, systematischen und kontinuierlichen Vorlauf. Nochmals: Die Einbrüche vollzogen sich transparent, in aller Öffentlichkeit, belegt durch harte Daten.

Aber die SPD rüttelte das nicht auf.

Es gab keine ringenden Debatten, keine aufgewühlten Versammlungen, keine Rebellen mit alternativem Konzept, die sich der fatalen negativen Entwicklung kraftvoll entgegengestemmt hätten. Ganz im Gegenteil: Die Parteitagsdelegierten jubelten, die Mitglieder freuten sich, wenn ihr zweimaliger Parteivorsitzender im apodiktischen Stakkato den offensichtlichen Unsinn skandierte: "Fraktion ist gut, Partei auch. Glück auf."

Déjà vu. In den zurückliegenden Wochen konnte man am Bildschirm eine Fülle von Rückblicken auf den Herbst 1989 verfolgen. Man sah einen Staat, bei dem die Selbstkorrekturmechanismen der Demokratie nicht gegeben waren.

Die innere Erosion des staatssozialistischen Systems war bereits weit fortgeschritten, aber es existierten keine Strukturen, Verfahrenweisen und Filter, um die Unzufriedenheit gewissermaßen evolutionär zum Ausdruck zu bringen. Und die SED- Führung versuchte sich daher über das Ausmaß der gesellschaftlichen und ökonomischen Zerrüttung hinwegzutäuschen.

Man erinnert sich noch gut an die verstockten Abwegigkeiten des greisen Erich Honeckers vom August 1989: "Den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf." Und natürlich weinte man erklärtermaßen auch keinem der Republikflüchtigen eine Träne nach.

Franz ist nicht Erich

Nun ist die SPD natürlich nicht wie früher die SED; Franz ist nicht Erich. Um so alarmierender allerdings sind die Defekte, die sich in der Sozialdemokratie Jahr für Jahr verstärkt haben. Die sozialdemokratische Organisation - einst der ganze Stolz der Partei - wurde in der vergangenen Dekade nahezu ruiniert.

Und niemals im 20.Jahrhundert hat sich in einer solchen Geschwindigkeit die soziale Ungleichheit, also die Diskrepanz zwischen den Eigentumsverhältnissen oben und unten so forciert wie in den sozialdemokratischen Regierungsjahren seit 1999. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, die keine Zukunfts- und Emanzipationsperspektive bieten, Working Poor und Armut haben, explizit durch sozialdemokratische Regierungspolitik begünstigt, in einem atemberaubenden Tempo zugenommen.

Es waren keineswegs Phantomschmerzen, welche die Ursache dafür bildeten, das sich Hunderttausende Mitglieder und Millionen Wählern brutal enttäuscht von ihrer Partei abgewandt haben.

Die sozialdemokratische Parteiführung indessen schaute ungerührt zu. Denn sie hielt ihre Politik dogmatisch für "alternativlos", was im Grunde die Attitüde von verbohrten Ideologen oder engen Apparatschiks, nicht aber von diskursiven Demokraten ist.

Die Bilanz der SPD im Herbst fällt desaströs aus. Doch beharrt ihr Noch-Parteivorsitzender in Interviews dieser Tage schmallippig und rechthaberisch darauf, dass die zurückliegenden elf Jahre gut, ein "stolzes Stück" für die SPD waren.

Eine Art Despotie im Willy-Brandt-Haus?

Wie, um Bebels Willen, hat es zu dieser Honeckerei, der Realitätsverdrängung und Fehlerignoranz in der SPD kommen können?

Aber mehr noch: Kaum war die Bundestagswahl mit dem Katastrophenergebnis für die SPD vorbei, erreichten den Autor zahlreiche Mitteilungen aus dem Willy-Brandt-Haus, dass dort während der Monate zuvor eine Art Despotie geherrscht habe, ein Klima des Duckmäusertums, der Bespitzelung, der Denunziation.

Eine allgegenwärtige Furcht vor den "Oberen" habe alle Kreativität vereitelt. Auf den Parteiversammlungen an der Basis hört man seit Wochen ganz ähnliche Töne, die einen abermals an den Herbst 1989 erinnern.

Redner melden sich in reuiger Selbstbezichtigung zu Wort, dass man fälschlicherweise all die Jahre geschwiegen, nicht gegen den Kurs der Parteispitze aufbegehrt habe, sei es aus falsch verstandener Solidarität oder schlicht aus Angst, politisch sonst kaltgestellt zu werden.

Nochmals: Wie hat es zu solchen Defekten in der einst selbstbewussten, widerspruchsfreudigen und unbedingt demokratischen Sozialdemokratie kommen können?

Der designierte Vorsitzende Sigmar Gabriel hatte immerhin schon früh eine Antenne für die Fehlentwicklungen. Schon 2003 konstatierte er erschreckt: "Die SPD ist organisatorisch fertig. Sie ist müde, ausgelaugt und braucht dringend eine Organisationsreform."

Die Dringlichkeit ist seither um ein Vielfaches noch angewachsen.

Die SPD erscheint als demokratische Organisation gründlich deformiert. Hier kann es für Gabriel nur Bruch und Neuanfang geben, nicht jedoch eine Kontinuität der Ära Schröder-Müntefering.

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