Die Schweiz und das Dritte Reich:Dunkle Flecken auf der rettenden Insel

Schweiz

Lichtblick Schweiz? Viele Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland gelangten nicht über die Grenze.

(Foto: dpa)

Die Schweiz galt lange als Anlaufstelle für viele Verfolgte des Nazi-Regimes. Ein schönes Bild, das so aber nicht stimmt. Wie zwiegespalten das Land bis heute ist, zeigt auch der Umgang mit einem Helden von damals.

Von Charlotte Theile, Zürich

Zehn Jahre ist es her, dass Israel Singer beim Auschwitz-Gedenktag in Berlin die Schweiz frontal angegriffen hat. Angesichts des Bösen, des Holocausts in ihrer unmittelbaren Nähe, sei die Neutralität der Schweiz "ein Verbrechen" gewesen, vergleichbar mit der Täterschaft Österreichs oder der Kollaboration in Frankreich, sagte der damalige Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses.

Viele Schweizer waren empört. Eine "Entgleisung" sei dies, ein "merkwürdiges Urteil". Schließlich habe die Schweiz mit ihrer Neutralität den Frieden im Land gesichert, es sei ihre einzige Möglichkeit gewesen, unversehrt zu bleiben.

Das Projekt

Im Mittelpunkt des Projekts #Kunstjagd steht die Suche nach einem verschollenen Gemälde der Familie Engelberg. SZ.de begleitet die Recherchen in einem 360°-Schwerpunkt, in dem wir über Fortschritte informieren und den historischen Hintergrund beleuchten Die #Kunstjagd ist ein Projekt des Rechercheteams "Follow the Money" (FtM) sowie der Filmproduktion Gebrüder Beetz und den Medienpartnern BR, Deutschlandradio Kultur, ORF, SRF, Der Standard, Rheinische Post und SZ.de. Mehr auf www.kunstjagd.com und www.sz.de/kunstjagd.

Dass die Schweiz diese Strategie zum Selbstschutz brauchte, wollte Singer auch nicht bestreiten. Im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) hob er aber kurz darauf hervor, dass vieles, was im Zweiten Weltkrieg geschehen sei, noch immer nicht im Bewusstsein des Landes angekommen sei: etwa die Schweizer Flüchtlingspolitik. Sie habe den Nazis bei ihrem "scheußlichsten Verbrechen", dem Holocaust, geholfen.

"Judenstempel" und verbreiteter Antisemitismus

Die Fakten, auf die sich Singer dabei stützte, sind in der Schweiz seit langem bekannt. Spätestens seit einer Veröffentlichung der sogenannten Bergier-Kommission im Jahr 1999 ist die Zurückweisung von Tausenden jüdischen Flüchtlingen an den Schweizer Grenzen öffentlich. 1938 wurde auf Wunsch deutscher Behörden ein "Judenstempel" in den Pässen eingeführt. Dass die Schweiz zudem von August 1942 an grundsätzlich keine "Flüchtlinge aus Rassegründen" mehr aufnahm, war demnach nicht nur Selbstschutz. Das rigide Vorgehen sei auch durch eine weitverbreitete antisemitische Grundhaltung zu erklären, hieß es.

Viele Politiker wehrten sich, verwiesen auf die gefährliche außenpolitische Lage, die Zwänge, denen sich die Eidgenössische Fremdenpolizei gegenüber sah. Auch wenn man heute weiß, dass das Boot längst nicht voll war. Auf dieses häufig bemühte Sprachbild vom überfüllten Rettungsboot, das mit Aufnahme weiterer Schiffbrüchiger zu kentern drohe, hatte sich die offizielle Schweiz verlegt, als sie 1942 beschloss, die Grenzen zu schließen. Dass die Berichte über Konzentrationslager und Massenerschießungen zu diesem Zeitpunkt längst in der Schweiz angekommen waren, lässt sich klar belegen.

Dennoch irritierte Ueli Maurer, Politiker des rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei, Anfang 2013 die jüdische Gemeinschaft und Historiker. Der damalige Bundespräsident Maurer lobte die Schweiz als "Insel für viele Bedrohte und Verfolgte". Dass aber Tausende Flüchtlinge in den sicheren Tod abgeschoben wurden, ließ er unerwähnt. Eine Auslassung, die als bewusste Schönfärberei interpretiert wurde. "Wann endlich macht die Schweiz Frieden mit ihrer Geschichte?" fragten Zeitungen.

Schülerinnen klagen die Bundesräte an

In der Folge wurde auch die Geschichte einer Schulklasse bekannt. 22 Mädchen, 14 und 15 Jahre alt, aus Rohrschach am Bodensee, schrieben im September 1942 einen Brief an die damals höchste Instanz des Landes. "Sehr geehrte Herren Bundesräte! Wir können es nicht unterlassen, Ihnen mitzuteilen, dass wir in den Schulen aufs Höchste empört sind, dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in das Elend zurückstösst."

Berichte über die geplante "physische Ausrottung der Juden" waren zu dieser Zeit in der Lokalzeitung zu lesen, die Schülerinnen wussten, was den zurückgewiesenen Flüchtlingen blühte - und in welchem Widerspruch dies zur offiziellen Linie ihres Landes stand: "Wir hätten uns nie träumen lassen, dass die Schweiz, diese Friedensinsel, die barmherzig sein will, diese zitternden, frierenden Jammergestalten wie Tiere über die Grenze wirft."

Es folgten: disziplinarische Untersuchungen, Verhöre der Autorinnen und ihres Lehrers - und schließlich, als die "Herren Bundesräte" zu der Überzeugung gelangt waren, dass die Mädchen nicht auf Anweisung von Lehrern gehandelt hatten, ein Stillschweige-Abkommen. Heute liegt der Brief im Berner Bundesarchiv. Dass die Mädchen aus Rohrschach ethisch korrekt gehandelt hatten, wurde erst spät anerkannt. 2013 fand Der Tagesanzeiger eine 85-jährige Unterzeichnerin des Briefes.

Ein Held, der verarmt und geächtet starb

Die beiden Narrative, die hier aufeinander prallen, beschäftigen das Land bis heute. Die sichere Insel Schweiz, die Tausenden Flüchtlingen half und für ihr humanitäres Engagement in der ganzen Welt bekannt wurde, steht der Schweiz gegenüber, die Hilfesuchende an den Grenzen abwies und durch fremdenfeindliche, antisemitische Äußerungen und rigoroses Vorgehen von sich reden machte.

Für diesen Zwiespalt steht als exemplarische Figur Paul Grüninger, der 1972 verarmt und in dem Ruf, ein Verbrecher zu sein, starb. Der Polizeihauptmann aus Sankt Gallen hatte Tausenden jüdischen und anderen Flüchtlingen geholfen, illegal in die Schweiz einzuwandern. Zur Strafe musste er sein Amt abgeben, verlor seine Pensionsansprüche, wurde wegen Pflichtverletzung verurteilt.

Heute tragen Straßen und Plätze in Israel, Deutschland und der Schweiz seinen Namen, in Sankt Gallen steht ein Paul-Grüninger-Stadion, in Wien eine Paul-Grüninger-Schule. 2014 wurde der Spielfilm "Akte Grüninger", der seine Rettungsaktionen in den späten 1930er Jahren nachzeichnet, ausgestrahlt. "Judenstempel" in den Pässen, Egoismus und Linientreue vieler schweizerischer Offizieller - auch die dunklen Kapitel der eidgenössischen Politik werden darin beleuchtet. Nicht nur aus historischem Bewusstsein. "Jeder, der die Zeitung aufschlägt, kann Parallelen zur heutigen Zeit ziehen. Jeder soll sich überlegen: Wie würde ich handeln in einer solchen Situation?", sagte Regisseur Alain Gsponer.

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