Süddeutsche Zeitung

Die Richterskala regiert:Iran prüft Verlegung der Hauptstadt in erdbebenarmes Gebiet

Mehr als eine Million Tote befürchten Experten, wenn ein Erdbeben wie in Bam die iranische Zwölf-Millionen-Metropole Teheran treffen würde. Die Regierung prüft deshalb, die Hauptstadt kurzerhand an eine andere Stelle zu verlegen.

Von Rudolph Chimelli

(SZ vom 7.1.2004) - Der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates, Hassan Rouhani, gab bekannt, dass eine Entscheidung darüber bis zum persischen Neujahr am 21.März getroffen werde. Der Geophysiker Bahram Akascheh von der Uni Teheran weist darauf hin, dass Iran durch eine Zerstörung seiner Hauptstadt gleichsam "geköpft" würde.

Rouhani ist einer der einflussreichsten Männer des Regimes und zugleich ein großer Realist. So war er für die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls zum Atomsperrvertrag verantwortlich. "Die Hauptstadt muss verlegt werden", forderte er jetzt im Fernsehen. Schon 1991 habe dies der Sicherheitsrat vorgeschlagen. Ein Regierungssprecher sagte, eine Verlegung sei laut einem Gutachten von 1989 auch wegen Übervölkerung, Verkehrschaos und Luftverschmutzung nötig.

Andere Fachleute plädieren dafür, die Gebäude in Teheran technisch zu verstärken. Denn, so zitiert die Zeitung Hamschahri den Wissenschaftler Nasser Karami, das einzig seismologisch sichere Gebiet des Landes sei die unbewohnbare zentrale Wüste.

Iran hatte in seiner Geschichte mehrere Hauptstädte. Die glanzvollste Periode ist mit der Herrschaft der Safawiden-Dynastie in Isfahan während des 17. und 18.Jahrhunderts verbunden. Nach Teheran zog der erste Schah der Kadscharen-Dynastie 1788. Als jetzt das Wort "Verlegung" fiel, wandten sich Spekulation sofort Isfahan zu, das 500 Kilometer südlich von Teheran liegt. Rouhani erwähnte die Stadt nicht. Sie gilt gleichfalls als nicht absolut erdbebensicher. Außerdem fänden es viele Iraner schade, diesem Juwel die Belastungen einer modernen Kapitale aufzuladen.

Teheran liegt über einer tektonischen Bruchstelle am Fuß des Elburs-Gebirges. Das letzte größere Erdbeben erlebte die Stadt 1830. Doch mehrmals im Jahr gibt es leichtere Erschütterungen. An den Hängen der Gebirgskette ist Teheran während der letzten Jahrzehnte in alle Richtungen gewachsen.

Arbeitssuchende vom Land wandern zu Millionen ein. Eine Flüchtlingswelle beim Krieg mit dem Irak heizte den Bauboom weiter an. Theoretisch müssen nach einer 15 Jahre alten Verordnung alle Neubauten Erdstößen der Stärke sieben standhalten. Aber die Bauvorschriften werden oft missachtet oder durch Verwendung billiger Materialien umgangen. Der Vorsitzende der Vereinigung der Bauingenieure, Aliresa Sarhadi, sagt voraus, dass bei einem Beben wie in Bam, das etwa eine Stärke von 6,5 auf der Richterskala hatte, 70 Prozent der Gebäude in Teheran einstürzen würden. Das Gesundheitsministerium schätzt, neun von zehn Krankenhäusern würden dem nicht standhalten.

Gegen tödliche Bausünden will Iran vorgehen, noch vor einem möglichen Hauptstadt-Umzug. Präsident Mohammed Chatami kündigte an, Verstöße gegen Bauvorschriften würden untersucht und bestraft. So habe ein früherer Bürgermeister von Bam die Vorschriften missachtet, als eine Siedlung für Veteranen errichtet wurde. Die alten Kämpfer hatten den Irak-Krieg überlebt und starben jetzt in den Trümmern ihrer neuen Heime.

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