Die Renaissance des Josef Wissarionowitsch Stalin:Der Mörder ist tot, es lebe der Sieger

Sechzig Jahre nach dem Kriegsende kehrt der Diktator zurück auf Podeste und Plakate - und es sind nicht nur die Alten, die ihn rühmen.

Von Daniel Brössler

Moskau/Belgorod, im Mai - Der Oberkommandierende hat es eilig. Schwungvoll setzt er das linke vor das rechte Bein und legt dabei einen Arm in stolzer Pose auf den Bauch. Seine Gesichtszüge verraten fröhliche Siegesgewissheit. Nur an einem gebricht es dem Generalissimus. Es ist, ausgerechnet, Größe.

Stalin

Der Diktator kehrt zurück - auf Plakate und Podeste.

(Foto: Foto: AP)

Josef Stalin misst kaum mehr als zwanzig Zentimeter. Er hat also bequem Platz gefunden auf einem Fensterbrett, dort zur Rechten und zur Linken umgeben von zweien seiner Generäle. Ein uniformiertes Trio, das am ehesten an einen Trupp Zinnsoldaten erinnert. Doch man möge das Modell nicht weiter beachten, bittet Wjatscheslaw Klykow. Nur das vollendete Werk sei es schließlich, worauf es ankomme.

Klykow trägt einen legeren grünen Pulli und ausgewaschene Jeans, womit er nicht ganz das Bild abgibt, welches das Bronzeschild am Eingang zum Atelier verheißt: "Bildhauer Klykow. Wjatscheslaw Michailowitsch. Träger des Staatspreises der Sowjetunion. Träger des Repin-Preises der Russischen Föderation". Der Staatspreisträger bittet nun zum Tee auf der Galerie. Von hier oben sind die neuesten Arbeiten zu besichtigen, Heldenfiguren und religiöse Motive zumeist.

"Sie haben nichts dagegen?", fragt er und zieht eine Pall Mall aus der Schachtel. Klykows Finger sind lang, seine Hände wirken dennoch grob. Es sind die Hände, die Stalin erschaffen sollen. "Zweieinhalb Meter wird er groß. Und der Sockel noch einmal einen Meter", sagt der Künstler. Er möchte Josef Wissarionowitsch Stalin auf einen Sockel heben - und damit ist er nicht allein im Russland des Jahres 60 nach dem Großen Sieg.

Die Rolle des Präsidenten

In mehreren Städten des Landes kämpfen Lokalpolitiker dafür, dem "Vater der Völker" aus Anlass der Siegesfeiern ein Denkmal zu setzen, und als die Iswestija unlängst ihre Leser im Internet fragte, ob sie in ihrer Stadt ein Stalin-Monument wünschen, antworteten 28 Prozent mit Ja. Erhebungen zeigen, dass gar die Hälfte der Russen das Werk des Generalissimus eher positiv sieht. Vor ein paar Tagen, während der Moskauer Kundgebungen zum 1.Mai, marschierten kommunistische Veteranen trotzig im Schatten eines riesigen Stalin-Porträts.

Menschenrechtler beobachten eine regelrechte Stalin-Renaissance und machen dafür einen Mann verantwortlich, der gerade fünf Monate alt war, als Stalin starb: Wladimir Putin. Unter diesem Präsidenten würden wieder "alle Tragik, alle Verbrechen des Staates gegen die Menschen aus den Lehrbüchern gestrichen", klagt die Organisation Memorial. Der Mörder Stalin ist tot, es lebt Stalin, der Sieger.

Die Methode wirkt: "Wir, die Kinder und Enkel des Sieges, müssen die Ehre Josef Stalins wiederherstellen und die Wahrheit über die Verdienste Josef Stalins um unsere Nation und die ganze Menschheit sagen", beschloss etwa der Stadtrat von Orjol mit 33 von 35 Stimmen. Und in Wolgograd verlangten Nationalisten und Kommunisten, die Stadt müsse wieder Stalingrad heißen.

Der Mörder ist tot, es lebe der Sieger

Erfolg hatten sie nicht, doch ins Museum für die Schlacht von Stalingrad zieht der Oberkommandierende zum Tag des Sieges am 9.Mai als vier Meter hohe Bronzestatue ein - mit dem Amerikaner Franklin Roosevelt und dem Briten Winston Churchill. Schöpfer des Werkes ist der Moskauer Bildhauer Surab Zereteli, gebürtiger Georgier wie Stalin und ein Konkurrent, für den Klykow nur Naserümpfen übrig hat. Er mag Kaukasier nicht besonders, es sei denn sie heißen Stalin.

Josef Wissarionowitsch Stalin

Stalin als Wahlkampfschlager.

(Foto: Foto: AP)

Als der geliebte Stalin im März 1953 starb, wurde der spätere Bildhauer gerade Komsomolze, da war er 13. In dieser Zeit war es auch, dass der kleine Klykow zwölf Seiten mit den gröbsten Mängeln der kommunistischen Jugend füllte, ein ganzes Schulheft voll. Das Heftchen schickte er per Post an den Jugendverband Komsomol, und es dauerte nicht lange, bis Geheimdienstler den Vater einbestellten. Drei Tage war er fort.

Mit gedämpftem Bekenntnisdrang wuchs Klykow schließlich heran in der Ära der "Entstalinisierung", in der Stalin-Alleen ebenso verschwanden wie Stalin-Denkmäler. Aber "so eine Figur wie Stalin, die schmeißt du nicht aus der Geschichte", sagt der Bildhauer heute fröhlich. Er ist stolz darauf, nie einen Lenin gemacht zu haben, und auch sonst keinen Parteichef. Stalin aber, der sei "ein großer Führer, ein großer Staatsmann" gewesen. Und - "selbstverständlich, eindeutig ja" - so einen bräuchte Russland heute auch.

Stalin als Wahlkampfschlager

680 Kilometer westlich von Moskau sitzt Sergej Demtschenko in seinem winzigen Büro und ist sichtlich angetan von der Gelegenheit, einem Besucher aus der Hauptstadt einmal alles zu erklären. Vielleicht ist es der rundliche Kopf oder doch eher der Schnauzer - Sergej Demtschenko erinnert an einen Herrn namens Peppone. Wie der italienische Filmheld ist Demtschenko ein Provinz-Kommunist mit allerlei Einfällen, von denen nicht jeder bis ins letzte Detail durchdacht sein muss.

Im Nachhinein lässt sich auch gar nicht mehr sagen, ob die Idee wirklich in Demtschenkos rundem Kopf geboren wurde. Eher ist es wohl so, dass sie in der Luft lag in der Stadt Belgorod, in der Demtschenko als Erster KP-Sekretär wirkt: Der örtliche Veteranenverband wünschte es, die Kommunisten verlangten es - pünktlich zum Tag des Sieges sollte ein Stalin-Denkmal entstehen.

"Es gelang ihm, die Nation zu vereinen", erläutert der KP-Sekretär. Und: "Er hat die Aufgaben erfüllt, die sich ihm gestellt haben." Ja, es habe auch die "Frage der Repression" gegeben, räumt er ein. "Aber alle Schuld auf Stalin zu schieben, das wäre doch primitiv", sagt er und lächelt verschmitzt. Der Sekretär ist zufrieden mit sich, denn in ein paar Monaten wird ein neues Gebietsparlament gewählt, und Stalin erweist sich als Wahlkampfschlager, weshalb auch die Gebietsverwaltung sich die Idee halbherzig zu eigen machte.

Der Mörder ist tot, es lebe der Sieger

Den Ärger damit hat nun Walerij Samulin. "Das ist ein heißes Thema, und niemand blickt da mehr durch", sagt er und wirkt in seinem Dreireiher wie ein unglückliches Walross. Es bekümmert ihn, dass ständig Reporter anrufen, die Genaueres wissen wollen. Schließlich weiß er das ja selbst nicht. Der 37Jahre junge Historiker ist Vize-Direktor der Gedenkstätte Prochorowka.

Auf diesem weiten Feld 80 Kilometer vor Belgorod tobte im Juli 1943 eine der schlimmsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges, und genau hier soll das Trio vom Fensterbrett des Bildhauers Klykow eine Heimat bekommen. So stand es in den Zeitungen, und so haben es die Leute aus dem Belgoroder Gouverneursamt angeblich auch den Veteranen und vor allem dem Bildhauer Klykow versprochen.

Ein verlegener Historiker

Klykow jedenfalls machte sich beflissen an die Arbeit, die er am Siegestag, dem 9. Mai, gerne enthüllt gesehen hätte - vor einem riesigen Glockenturm, den er höchstselbst vor zehn Jahren zur 50-Jahr-Feier auf dem Prochorowka-Feld errichtet hatte. Nun aber wird dazu wohl ein unauffälligerer Tag gewählt, einer, der die Moskauer Siegesfeiern und ihren Gastgeber Putin nicht stört.

Der Historiker Samulin reagiert etwas verlegen auf die Frage, ob es nicht gleich besser wäre, Stalin auf seinem Moskauer Fensterbrett zu belassen, besser jedenfalls, als ihn ausgerechnet auf dem Prochorowka-Feld zu rühmen. Es ist nämlich so, dass es von der hiesigen Schlacht zwei Geschichten gibt - eine strahlende aus der sowjetischen Propaganda und eine grausige, die der Wahrheit wohl näher kommt.

1500 Panzer prallten hier am 12.Juli 1943 aufeinander und entfachten ein Inferno. Nach sowjetischer Lesart war der russische Gegenangriff ein Triumph und markierte den Beginn des deutschen Rückzugs, den Zusammenbruch der deutschen Offensive "Zitadelle". In Wahrheit aber hetzte der sowjetische Generalleutnant Pawel Rotmistrow seine Männer den gut vorbereiteten Deutschen direkt vor die Kanonenrohre, Tausende starben sinnlos in einer keineswegs kriegsentscheidenden Schlacht.

Keine Schuld

Der Museumsdirektor hat in Moskauer Archiven die Dokumente gewälzt und bittet mit Leidenschaft, diese Schlacht nicht aus ihrem Zusammenhang, aus ihrem Krieg zu reißen. Aber er muss auch zugeben, dass es an jenem Tag "Verluste gab, die man eine Niederlage nennen könnte". Schon in der Nacht zum 12.Juli sei klar gewesen, dass der Schlachtplan nicht aufgehe. "Nur Stalin hätte den Angriff da noch abblasen können. Aber niemand hatte den Mut, ihn früh am Morgen anzurufen", sagt Samulin - und daran treffe doch Stalin keine Schuld.

Auf so tückischem Terrain tut Verstärkung Not, und so ist der Historiker erleichtert, als sie endlich aus dem Dorf Prochorowka eintrifft. Klawdija Krawtschenko trägt eine rote Weste, auf der 17 blank polierte Medaillen glänzen. Zwei davon zeigen das Konterfei Stalins. Klawdija Krawtschenko setzt sich auf einen Stuhl, den Rücken gerade, und beginnt ohne Umschweife zu erzählen. Von der Flucht vor den Deutschen, dem tagelangen Fußmarsch zum Don, vom abenteuerlichen Weg nach Stalingrad, vom grauenhaften Alltag als Krankenschwester dort.

Der Mörder ist tot, es lebe der Sieger

Ja, und auch von der Liebe zu Stalin, die sie doch alle hatten damals. "Gewiss, die Hauptlast trug der Soldat", sagt sie. "Aber beim Sieg, da spielte Stalin eine wichtige Rolle. Er war eine große Persönlichkeit." Der Krieg und der Sieg, das waren die Ereignisse ihres 83Jahre alten Lebens, und selbst wenn sie wollte, sie könnte das alles nicht von der Figur Stalin trennen. Sie trägt den Generalissimus auf der Brust, warum sollen andere ihm kein Denkmal bauen?

Doch für manche war das Schicksal ein Scheusal, launisch und unberechenbar. Im gemütlichen Wohnzimmer von Boris und Wera Tschursin ist die Erinnerung daran lebendig. Der pensionierte Deutschlehrer Boris hat Glück gehabt, und erstaunlicherweise hat er genau das nicht vergessen. Sie hatten ihn aus Prochorowka zur Zwangsarbeit verschleppt an die Ostsee nach Gdingen oder Gotenhafen, wie es die Nazis nannten.

Und als 1945 die Befreier von der Roten Armee kamen, da teilten sie die russischen Männer in zwei Gruppen. "Wer Geburtsjahr '22 und älter war, der musste nach rechts", sagt Tschursin in seinem Deutsch aus einer anderen Zeit, "und wer Geburtsjahr '23 und jünger war, der ging nach links." Links, das war der Marsch auf Berlin. Rechts, das war der Marsch nach Sibirien - wie es sich für Verräter gehörte, und nichts anderes sah Stalin in den Kriegsgefangenen.

"Es gab ja genug Gras"

Tschursin, 1926 geboren, durfte nach links. Über die Seelower Höhen zog er nach Berlin und überlebte. "Das war das Wichtigste", sagt er. Doch nicht dank, sondern trotz Stalin hat er den Krieg überstanden. "Er war so ein grausamer Mensch. Ein Denkmal für Stalin werden sie nicht erlauben", hofft er. Bisher hat sie geschwiegen, doch jetzt reicht es Wera.

"Was redest du?", fährt sie ihren Mann an, und erzählt ihre Geschichte: Wie sie mit ihrer Mutter am 12. Juli 1943 über das brennende Prochorowka-Feld geirrt ist, wie sie sich hinter die Linien der Sowjets gerettet haben, wie auch sie überlebt hat. Sie bleibt Stalin auf immer dankbar. Dankbar für den Sieg.

Wofür aber könnte Antonina Terechowitsch-Lytkina dem Oberkommandierenden Josef Stalin dankbar sein? "Wir starben nicht an Hunger. Es gab ja genug Gras", sagt sie bitter. Der Großvater war Ikonenmaler, was damals als Grund allemal reichte, die Familie zum Ural zu verbannen. Antonina ist Mitglied der Belgoroder Ortsgruppe des Verbandes der Opfer politischer Repressionen.

Sie hat sich mit fünf Leidensgenossen in einem kleinen Büro eingefunden. Sie alle haben Dokumente des Grauens mitgebracht, Todesurteile und Protokolle. Es sind Geschichten von Verbannung und vom tödlichen Zufall im Reich des Josef Stalin. Mit Opfern wie dem Vater von Wiktor Schmidt, den sie an die Wand gestellt haben. "Wir hatten ein Plansoll zu erfüllen", verriet ein KGB-Mann dem Sohn später.

Mit Opfern wie Alexander Moroschenko, dessen Schuld in einer frechen Frage als frisch rekrutierter Soldat im Polit-Unterricht bestand. Die endlosen Verhöre, die Tage im Karzer, der nicht viel größer war als ein Sarg, verwandelten einen unbedarften Jungen in einen geständigen Spion - verurteilt zu acht Jahren Lager. Es kam der Sieg, es kam Stalins Tod, doch rehabilitiert haben sie Alexander Moroschenko erst 1970.

Beim Opferverband hat wegen der Stalin-Pläne übrigens noch keiner nachgefragt. "Man versucht uns eben zu vergessen", sagt Antonina Terechowitsch-Lytkina. "Deshalb bauen sie das Denkmal."

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