Die Recherche und der Koalitionsvertrag:So viel Agenda 2017 steckt in den schwarz-roten Rentenplänen

Rente Koalitionsvertrag

Was kommt auf die Rentner in den nächsten Jahren zu?

(Foto: dpa)

Lebensleistungsrente, Ruhestand mit 63, Pensionen: Wie groß sind eigentlich die Schnittmengen der Agenda 2017 von SZ.de und der Rentenpolitik von Schwarz-Rot? Wir haben uns den Koalitionsvertrag genauer angeschaut.

Von Sabrina Ebitsch

Es war eine lange Nacht, an deren Ende auch gesungen wurde. "Wann wir schreiten Seit' an Seit' und die alten Lieder singen", soll aus dem Willy-Brandt-Haus ertönt sein, nach der langen Nacht der Koalitionsverhandlungen. Nun also schreiten sie Seite an Seite, die großen Koalitionäre, und nicht nur die Opposition ist damit unzufrieden.

Nicht einmal in der SPD ist man so recht glücklich mit dem Vertragswerk (PDF), wie unglücklich, das wird der derzeit laufende Mitgliederentscheid zeigen. Und während die SPD-Mitglieder über dem 185-Seiten-Paket brüten, wollen wir prüfen, wie nahe die Agenda 2017 von SZ.de und die Agenda der großen Koalition beieinanderliegen. In unserem Projekt Agenda 2017 haben wir seit der Bundestagswahl über mehrere Wochen in Abstimmungen, Online-Debatten und abschließenden Analysen gemeinsam mit Lesern und Experten ein ideales Regierungsprogramm für die kommenden vier Jahre entwickelt - hier zur Rente. Wie also fällt der Vergleich mit dem realen aus?

Wie sich das Rentensystem verändert

In Deutschland leben 20 Millionen Rentner. 20 Millionen, das ist ein Viertel der Bundesbürger und immerhin jeder dritte Wahlberechtigte. Kein Wunder, dass die künftige große Koalition auch einige nicht zu unterschätzende Passagen den Ruheständlern gewidmet hat. Auch wenn es nicht unbedingt jene sind, denen unsere Leser und Experten in der Online-Debatte zur Agenda 2017 Priorität eingeräumt haben.

Die Rente war ein Schwerpunkt in den Koalitionsverhandlungen, ein bis zuletzt umstrittener. Herausgekommen ist eine Mischung mit ungefähr gleichen Farbanteilen, beide Seiten konnten wichtige Anliegen durchsetzen. Die SPD beispielsweise die Rente mit 63 beziehungsweise mittelfristig mit 65 nach 45 Beitragsjahren - ohne Abzüge, wie sie die, die früher in Rente gehen wollen, bislang hinnehmen müssen. Selbst Jahre der Arbeitslosigkeit werden dabei anerkannt.

Damit nähert man sich zumindest einem flexiblen Renteneintrittsalter an, das sich weniger an einer starren Altersgrenze als daran orientiert, wie lange jemand tatsächlich (versicherungspflichtig) gearbeitet hat. In der Renten-Debatte zur Agenda 2017 wurde die in diese Richtung gehende Forderung nach einem weniger starren Renteneintrittsalter laut. Allerdings ist fraglich, ob die Maßnahme einem Klientel jenseits der Facharbeiter mit regelmäßigen Einzahlungen hilft.

Fortschritt bei der Lebensleistungsrente

Mit der Mütterrente hat sich die Union durchgesetzt. Frauen, die vor 1992 Kinder bekommen haben, werden ab Mitte 2014 bessergestellt: Sie bekommen ein Erziehungsjahr zusätzlich angerechnet - finanziert aus der Rentenkasse. Eine solche Nutzung der Beiträge für Klientelpolitik war in der Agenda 2017 eindeutig abgelehnt worden. Auch die Rentenangleichung zwischen Ost und West wird vorangetrieben: 2016 soll sie auf den Prüfstand gestellt werden, 2017 dann je nach Ergebnis dieser Prüfung nachgebessert werden. Damit hat sich Schwarz-Rot die Angleichung der Renten in Ost und West, eine weitere in der Agenda 2017 kritisierte Ungerechtigkeit, zumindest zum Ziel gesetzt.

Verbesserungen gibt es auch für sozial Schwache. Die Erwerbsminderungsrente wird aufgebessert, eine Maßnahme, die mit der Agenda 2017 konform geht. Wer aus gesundheitlichen Gründen früher in Rente geht, muss nun nicht mehr so hohe Abschläge hinnehmen - auch dafür haben viele Leser und Experten in der Runde plädiert. Für Geringverdiener mit mindestens 40 und später 35 Beitragsjahren wird eine solidarische Lebensleistungsrente, die ein monatliches Einkommen von bis zu 850 Euro im Monat garantiert, eingeführt - allerdings erst 2017. Letztere war - in verschiedenen Varianten - bereits vor der Wahl in der Diskussion und auch Thema in unserer Online-Debatte.

Punktuelles Basteln statt nötiger Reformen

Vieles andere allerdings, was Leser und Experten der Politik mit auf den Weg geben wollten, ist - wenig überraschend - ausgeblieben. Die Frage nach einer Neuordnung von staatlicher und privater Altersvorsorge, eine der zentralen in unserem Chat, wird im Koalitionsvertrag nicht gestellt. Auch die in ihrer derzeitigen Ausgestaltung gescheiterte Riester-Rente oder die Forderung nach einer privaten, kapitalgedeckten Pflichtversicherung aus der Agenda 2017 war in den Verhandlungen kein Thema. Leser und Experten diskutierten auch Mischmodelle aus Pflichtbeiträgen, kapitalgedeckter Versicherung und privater Vorsorge, für die sich womöglich auch der Staat als Anbieter engagiert - aber für die kompromissgetriebenen Koalitionäre konnten derart grundsätzliche Überlegungen keine Rolle spielen.

Lediglich die betriebliche Altersvorsorge soll, einer allgemein gehaltenen Formulierung im Koalitionsvertrag zufolge, gestärkt werden. Ebenso wenig stand auch die im Chat diskutierte Reform des Pensionsmodells zur Debatte, die mit der Union ohnehin nicht zu machen gewesen wäre.

Stattdessen werden die Probleme an nachfolgende Generationen vererbt - nicht nur strukturelle, sondern auch finanzielle. Finanziert werden die nicht gerade kostengünstigen Reförmchen - geschätzt werden die Kosten auf etwa 20 Milliarden Euro aus der Rentenversicherung - größtenteils nicht aus Steuergeldern, denn Steuererhöhungen geschweige denn -reformen wird es nicht geben. Stattdessen müssen die Beitragszahler herhalten.

Reserven anderweitig verplant

Denn für heutige Arbeitnehmer bedeutet das, dass sie auf die Senkung des Rentenbeitrags von 18,9 auf 18,3 Prozent, die angesichts der erklecklichen Rücklagen eigentlich greifen würde, verzichten müssen. Diesen Automatismus will Schwarz-Rot zur Finanzierung des Rentenpakets aushebeln, wodurch den Beitragszahlern eine Entlastung von drei Milliarden Euro entgeht.

Die Abschaffung dieses Mechanismus war eine der zentralen Forderungen unserer Agenda - die Zielsetzung allerdings eine ganz andere. Denn die konjunkturabhängigen Mehreinnahmen sollten gerade keine neuen Leistungen finanzieren, sondern gespart werden. "Schon bei stabilen Beiträgen könnte die Rentenversicherung jetzt Rücklagen für die Zukunft bilden", sagte Joachim Rock vom Paritätischen Wohlfahrtsverband im SZ.de-Chat. Rücklagen für Zeiten, in denen ein stark belastetes Rentensystem sonst stark steigende Beiträge bedingen würde.

Ein weiterer Vorschlag der Agenda war, die frei werdenden Gelder als andere Form der Demografiereserve in Bildung und damit in künftige Beitragszahler zu investieren. Ein Thema, das allerdings bei den Plänen der neuen Regierung eher vernachlässigt wird, die Reserven sind ja auch anderweitig eingeplant. Immerhin soll es Investitionen in Schulen und Hochschulen geben, die sich auch langfristig im Rentensystem bemerkbar machen, weil die Jungen so in bessere und damit besser bezahlte Jobs kommen können.

Und auch mit der Einführung des Mindestlohns steht eine einschneidende Reform an, von der langfristig auch das Rentensystem, wie in der Agenda 2017 angeregt, profitiert: Denn im Niedriglohnsektor, in dem derzeit immerhin ein Fünftel aller Erwerbstätigen arbeitet, wird sich durch die zumindest ab 2017 garantierten 8,50 Euro pro Stunde zwar nicht genug, aber doch einiges ändern. Und damit auch bei den späteren Rentenzahlungen derjenigen, die nun zumindest einen Mindestlohn erhalten. Allerdings wird auch der, dessen Arbeit auf Dauer nur so honoriert wird, im Alter nicht genug zum Leben haben und weiterhin auf die nun eingeführten staatlichen Unterstützungssysteme angewiesen sein. Die Lücken, die der politisch gewollte Niedriglohnsektor hinterlässt, wird auch weiterhin das Rentensystem schließen müssen.

Ob es das allerdings nicht nur auf Dauer, sondern auch mittelfristig wird leisten können, ist fraglich. Dahinter steht die Einsicht, dass das, was ebenso nötig wie unwahrscheinlich war, ausgeblieben ist: Grundsätzlich werden die Koalitionäre nicht Hand ans Rentensystem legen. Es wird weiter, wie in Teilen auch in der Agenda 2017 vorgeschlagen, punktuell gebastelt, gezerrt, geschraubt. Aber die umfassenden Reformen anzugehen, die sich Experten und Leser gewünscht hätten und die der demografische Wandel und die Umwälzungen in der Arbeitswelt der Politik eigentlich verordnen - die wird die große Koalition erwartungsgemäß schuldig bleiben.

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