SZ-Korrespondenten: Reaktionen:So sieht die Welt Wikileaks

Die erste Schockwelle der Wikileaks-Enthüllungen hat den Globus erfasst. In manchen Ländern macht sich Erleichterung breit, andere fürchten ernste Konsequenzen. Von London bis Peking.

berichten.

Der 28. November war ein Tag, wie ihn die internationale Diplomatie wohl noch nie erlebt hat. In Botschaften und Regierungssitzen in aller Welt haben Beamte und Politiker mit Spannung auf die Enthüllungen der Plattform Wikileaks und ihrer Medienpartner gewartet.

Wikileaks - Medienecho

Wikileaks-Medienecho: Zeitungen in aller Welt berichten über die geheimen Protokolle.

(Foto: dpa)

US-Außenministerin Hillary Clinton hatte sich bereits im Vorfeld um Schadensbegrenzung bemüht und wohl in vielen Fällen durchblicken lassen, in welche Richtung die Inhalte der Depeschen gehen könnten. Ein Teil der schlagzeilenträchtigen Depeschen fällt auch eher in die Kategorie "amüsant" als in die Sparte "brisant". Doch nicht überall konnten die Betroffenen so lachen wie Italiens Premier Silvio Berlusconi.

Von London bis Pakistan haben SZ-Korrespondenten die Reaktionen aus den wichtigsten Ländern zusammengetragen. Lesen Sie auf den folgenden Seiten, worüber Israels Regierung erleichtert war und warum eine US-Zeitung glaubt: "America will be strong, Spiegel will be wrong".

Russland: Ruhe ist Bürgerpflicht

Ganz oben ist es bislang still. Dmitrij Peskow, Sprecher von Premierminister Wladimir Putin, hält jede Äußerung zu Wikileaks bislang für verfrüht, aus dem Kreml heißt es, man sei informiert worden, außerdem äußerten sich russische Diplomaten ähnlich unverblümt. Einzig Kommunisten-Chef Gennadij Sjuganow verlangte, die neuerdings harmonischen Beziehungen zu Amerika "zu überdenken".

Dass amerikanische Diplomaten Putin als "Alpha-Rüde" und Präsident Dmitrij Medwedjew als "blass" bezeichnet hatten, dass sie Medwedjews Verhältnis zu Putin wie jenes von "Robin" zu "Batman" sehen, hat für Russland begrenzten Neuigkeitswert.

Andere Depeschen aber beschreiben eine vermeintliche Symbiose von Geheimdienst und Verbrechen, Russland sei "de facto ein krimineller Staat", zitiert die russische Zeitung Wedomosti.

Einige Berichte dürften Moskau hingegen sogar freuen: Die russische Zeitschrift Russkij Reporter bezieht sich auf Papiere, die während des Georgienkonfliktes 2008 verschickt wurden. Danach habe Amerika von Anfang an gewusst, dass der georgische Präsident Michail Saakaschwili in der abtrünnigen georgischen Provinz Südossetien einmarschiert sei. Dennoch habe man überlegt, was jenen zu antworten sei, "die nicht von der absoluten Unschuld Georgiens überzeugt sind".

Sonja Zekri, Moskau

Großbritannien: Entspannt

Die Veröffentlichung amerikanischer Botschafterkorrespondenz mag zwar eine diplomatische Eiszeit heraufbeschwören, doch die britische Öffentlichkeit beschäftigt sich mit einer realen Eiszeit: den außergewöhnlich starken Schneefällen in Schottland und Nordengland.

Zu den auch für britische Politik peinlichen Enthüllungen veröffentlichte das Außenministerium in London eine Standarderklärung: Man verurteile die Leaks, weil sie die nationale Sicherheit und das Leben einzelner Personen gefährden könnten, teilte ein Sprecher mit. Das Verhältnis zu den USA werde davon nicht berührt.

Noch entspannter formulierte es Sir Christopher Meyer, Londons Ex-Botschafter in Washington. Politisch, so meinte er, würden die Veröffentlichungen nichts verändern. Man werde sich nun auf beiden Seiten des Atlantiks zusammensetzen und erkunden, wie man künftig sicherer elektronisch miteinander kommunizieren könne.

Wolfgang Koydl, London

Frankreich: Starke Worte

Es hätte schlimmer kommen können für den französischen Präsidenten: Nicolas Sarkozy sei "empfindlich und autoritär" und springe reichlich ruppig mit seinen Mitarbeitern herum, heißt es in den amerikanischen Dokumenten. Damit kann man leben.

Diplomatisch unangenehmer ist es, dass nun einige harsche Einschätzungen von Sarkozys außenpolitischem Chefberater, Jean-David Lévitte, überall zu lesen sind. Lévitte, der als heimlicher Außenminister gilt, nannte Iran in einem vertraulichen Gespräch einen "faschistischen Staat".

Außerdem bezeichnete der Franzose den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez als Verrückten, der sein Land zu einem zweiten Simbabwe herunterwirtschafte. Die französische Regierung empörte sich am Montag über Wikileaks. Die Veröffentlichungen bedrohten die Souveränität der Staaten und die Sicherheit der Bürger. Eine Website wie Wikileaks gehöre daher verfolgt.

Stefan Ulrich, Paris

Italien: Wieder ein Desaster

"Unfähig, eitel und ineffektiv als moderne europäische Führungsfigur", das kabelte die damalige amerikanische Geschäftsträgerin in Rom, Elizabeth Dibble, als Urteil über Silvio Berlusconi nach Washington. Er sei physisch und politisch schwach, wegen seines Hangs zu spätnächtlichen Partys "ruht er sich nicht genug aus".

Zu solchen Erkenntnissen über Italiens Premier waren andere auch schon gelangt, deshalb bedeutet ihre Veröffentlichung durch Wikileaks bisher nicht "den 11. September der Diplomatie", den Außenminister Franco Frattini befürchtet hatte. Doch das Thema Wikileaks dominiert auch in den italienischen Medien vor allen anderen.

Sie geben wieder, dass der Premier jenseits des Atlantiks als "Sprachrohr von Wladimir Putin" betrachtet wird. Hillary Clinton habe Ende Januar darum gebeten, alles über die persönlichen Beziehungen zwischen Putin und Berlusconi in Erfahrung zu bringen. Offenbar wollte sie wissen, ob Letzterer seinen Kontakt für private Geschäfte benutzt.

Berichten zufolge hat Berlusconi nur gelacht über die ihn betreffenden Passagen, und seine Entourage soll erleichtert sein: Sie hatten mit Schlimmerem gerechnet. Auch das würde Bände sprechen. Aus den 3012 Dokumenten, die offenbar Italien betreffen, soll hervorgehen, dass Washington Sorgen hatte wegen Übereinkünften des italienischen Energieriesen Eni mit Gazprom über die Southstream-Pipeline.

Veröffentlicht ist nun auch, dass Außenminister Frattini enttäuscht sei von der Türkei. Sie spielt aus seiner Sicht ein doppeltes Spiel, indem sie sich sowohl Iran als auch Europa annähern wolle. Ärger gab es zwischen Rom und Washington wegen an Iran gelieferten Schiffen. Frattinis Urteil bewegte sich am Montag weiter in großen Dimensionen: "Wikileaks will die Welt vernichten", sagte der Außenminister.

Andera Bachstein, Rom

Pakistan: Antiamerikanismus

Die Ansage war eindeutig: Die amerikanischen Bemühungen, angereichertes Uran aus einem pakistanischen Forschungsreaktor zu entfernen, ist der Öffentlichkeit in dem muslimischen Land nicht zu vermitteln, gab ein Beamter in Islamabad der US-Botschafterin zu verstehen. Die Diplomatin schickte die Botschaft im Mai 2009 nach Washington.

Wenig bringt die Menschen in der Islamischen Republik Pakistan mehr in Rage als die Einmischung der USA - und wenig macht die breite Masse stolzer als das nukleare Potential des Landes. Der nun durch Wikileaks bekanntgewordene, seit 2007 erfolglos betriebene Versuch der USA, auf das Programm einzuwirken, bestätigt die Pakistaner in ihrer Abneigung gegen die US-Regierung.

Das Außenministerium in Islamabad teilte am Montag mit, die Veröffentlichung der Dokumente sei "unverantwortlich". Pakistan werde "keine direkte oder indirekte ausländische Einmischung zulassen" sagte ein Sprecher über das Nuklearprogramm.

Tobias Matern, Neu-Delhi

Israel: Raus dem Mittelpunkt

Anderswo mögen sie sich wundern oder zetern, in Israel herrscht nach den Wikileaks-Veröffentlichungen Erleichterung und sogar Genugtuung: "Wir stehen nicht im Mittelpunkt", sagte Premierminister Benjamin Netanjahu.

Überdies darf sich Israel bestätigt fühlen in seinen steten Warnungen vor der iranischen Bomben-Gefahr - schließlich haben die arabischen Nachbarn von Saudi-Arabien bis nach Jordanien genauso auf einen amerikanischen Militärschlag gegen das Mullah-Regime gedrängt. Unter dem Strich, so ist am Montag aus Jerusalem zu hören, dürfte Israel am Ende sogar profitieren von diesem weltweiten Abgrund an Enthüllungen.

Da nimmt man gern in Kauf, dass in den Papieren auch noch enthüllt wird, dass Israel im Gaza-Krieg von Ende 2008 der palästinensischen Fatah sowie Ägypten ein gemeinsames Vorgehen gegen die Hamas angeboten hat.

Peter Münch, Tel Aviv

Türkei: Bis sich der Staub legt

Die veröffentlichten Depeschen zeigen ein großes Misstrauen der USA gegenüber Ankara. Erdogan wird als "sturer" und uninformierter "anatolischer Volkstribun" beschrieben, der allzu oft islamistischen Einflüssen erliege, sein Außenminister Ahmet Davutoglu, auf den die aktive Außenpolitik der Türkei zurückgeht, wird als "äußerst gefährlich" eingestuft.

Die große Zeitung Milliyet meint, es sei "klar, dass der größte Schaden für die türkisch-amerikanischen Beziehungen nicht von einem Streit über al-Qaida oder die PKK herrühren wird, sondern von der Art und Weise wie die Amerikaner über die türkischen Politiker sprechen".

Die türkische Regierung gab sich in ersten Reaktionen betont zurückhaltend. "Die Seriösität von Wikileaks ist zweifelhaft", sagte Premier Tayyip Erdogan. Auch Energieminister Taner Yildiz sagte, man wolle mit einer öffentlichen Einschätzung zunächst warten bis "Staub und Rauch sich gelegt haben".

Kai Strittmatter, Istanbul

China: Nur die anderen

Die chinesischen Medien berichteten über die Depeschen bei Wikileaks, allerdings beschränkten sie sich dabei ausschließlich auf Details, die für andere Länder peinlich sind. Die für China brisanten Details hingegen wurden von der Zensur verboten und in der Berichterstattung komplett unterschlagen.

So erfuhren chinesische Zeitungsleser nichts von der Depesche aus der US-Botschaft in Peking, derzufolge die chinesische Regierung hinter dem Hacker-Angriff auf Google im Dezember 2009 stecken könnte. Eine nicht näher genannte "Quelle" habe ihm das gesagt, hatte ein Diplomat aus der amerikanischen Botschaft in Peking an das Außenministerium gekabelt.

Henrik Bork, Peking

Deutschland: Eine Panne

Der Spiegel war schneller als die New York Times, als Le Monde und die anderen Medienpartner von Wikileaks. Wegen einer Logistik-Panne gelangte das Nachrichtenmagazin von einem Kiosk in Basel aus bereits am frühen Sonntag in Umlauf und so konnte sich die "Teflon-Kanzlerin" und der "aggressive" Außenminister auch gemütlich auf den Spiegel und seine "ENTHÜLLT"-Schlagzeile vorbereiten.

Am Vormittag konnte Regierungssprecher Steffen Seibert sorgsam abgewogen formulieren: "Wir bedauern die Veröffentlichung." Seibert betonte die Freundschaft mit den USA, die Auswirkungen auf das Verhältnis seien "vernachlässigenswert". Der düpierte Chefdiplomat Guido Westerwelle ließ über seinen Sprecher ausrichten, er habe die Depeschen mit "der gebotenen Ernsthaftigkeit" zur Kenntnis genommen - allerdings weniger die "mutmaßlichen Einschätzungen über deutsche Politiker", sondern eher die Informationen, die weltweite Bedeutung hätten.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble aber greift tief ins Tintenfass und zieht indirekt Parallelen zur Stasi: "Ich halte das alles für ganz schlimm und unappetitlich." Allerdings sei er nicht besonders interessiert an dem, was amerikanische Diplomaten über ihn berichtet hätten: "Ich muss auch sagen: ich habe geringes Interesse daran ... Ich habe noch nicht einmal meine Stasi-Akte gelesen." Über Schäuble heißt es in den Wikileaks-Veröffentlichungen unter Berufung auf einen Informanten aus der FDP, er sei "neurotisch" und "ein zorniger alter Mann". Schäuble sei aber ein enger Verbündeter im Kampf gegen den Terror.

FDP-Minister Dirk Niebel sorgt sich vor allem um den Ruf seiner Partei und wies Berichte zurück, ein FDP-Mitglied habe als Informant Interna der schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen an US-amerikanische Stellen weitergegeben. "Ich halte den Vorwurf für geradezu lächerlich", sagte Niebel am Sonntagabend in der ARD-Talkshow Anne Will.

Wolfgang Jaschensky, München

USA: Dementi der Diplomaten

In fast allen US-Medien sind die Veröffentlichungen von Wikileaks die Titelgeschichte - außer bei der Washington Post, ehemals Vorreiterin des investigativen Journalismus. Ist die Post beleidigt, weil der große Konkurrent die Dokumente von Wikileaks vorab exklusiv hatte? Die New York Times berichtet in großem Umfang. Den Schwerpunkt bildet die Enthüllung, dass US-Diplomaten dazu angehalten waren, private Informationen über Kontaktpersonen zu sammeln - zum Beispiel deren Kreditkartennummern. Übernehmen Botschafter die Aufgabe von Spionen und Geheimdiensten, fragen sich US-Medien.

Ein Sprecher des Außenministeriums wies diesen Vorwurf zurück: "Unsere Diplomaten sind nur das: Diplomaten." Die US-Behörden haben entrüstet auf die Veröffentlichungen reagiert. Zwei US-Senatoren haben gefordert, Wikileaks strafrechtlich zu verfolgen. Von einer "waghalsigen und gefährlichen Aktion" sprach das Weiße Haus und warnte davor, dass einige der Depeschen die Arbeit und sogar das Leben von US-Mitarbeitern weltweit gefährden könnten.

Der Weekly Standard teilt diese Interpretation nicht. Als eines der wenigen Medien traut sich die neokonservative Wochenzeitung bereits, die Enthüllungen nicht nur zu berichten, sondern auch zu kommentieren und greift dabei das deutsche Magazin Spiegel an. Dieser schrieb am Wochenende, die Veröffentlichung sei ein Desaster für die US-Diplomatie. Schwachsinn, findet der Weekly Standard, der den US-Behörden außerdem davon abrät, sich für irgendetwas zu entschuldigen.

Barbara Vorsamer, München

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