Die Muslimbruderschaft in Ägypten:Wege des Lichts - und der Finsternis

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Beim Aufruhr in Ägypten spielt die Muslimbruderschaft bisher nur eine Nebenrolle. Doch sie hat ihr Land zutiefst geprägt. Die vertrackte Geschichte eines langen Kampfes.

Heiko Flottau

Während Hunderttausende auf Kairos Midan Tahrir, dem "Platz der Befreiung", dem Präsidenten ihr "Es ist genug" zuriefen, saß Hosni Mubarak in seinem Präsidentenpalast und erhob seine übliche Anklage: Die Proteste gegen ihn seien das Werk der Muslimbruderschaft. Etwa zur selben Zeit lud der neue Vizepräsident Omar Suleiman eben jene Muslimbrüder zu Gesprächen über die Zukunft des Landes ein.

Die Sprecher der Muslimbruderschaft Mohammed Mursi (links) and Saad al-Katatini (rechts). Der Ägyptische Vizepräsident Suleiman hatte die zuvor verboten Muslimbrüder zu Gesprächen eingeladen. Es war die neueste Wende in der verworrenen Geschichte zwischen ägyptischen Offizieren und den Brüdern. (Foto: AFP)

Wie? Mit Staatsfeinden verhandeln über das Schicksal der Nation?

Die womöglich nur aus taktischen Erwägungen gemachte Verbeugung des Regimes vor der Bruderschaft markiert die neueste Wende in der verworrenen Geschichte zwischen ägyptischen Offizieren und den Brüdern. Manches in dieser vertrackten Chronik hat mit europäischem Kolonialismus zu tun, vieles mit der ewigen Frage, nach welchem Gesellschaftsentwurf Ägypten leben soll: nach einem bodenständig muslimischen oder einem importierten westlich-liberalen?

Ismailia 1928. Die Stadt am 1869 mit aufwendigem Pomp eröffneten, den Briten gehörenden Suezkanal hat ein europäisches Gesicht. Ist das die Zukunft des Landes? Diese Frage stellen sich viele - unter ihnen der Lehrer Hassan al-Banna. Er kommt zu dem Schluss, Ägypten müsse nach einem eigenen, einem muslimischen Konzept leben, und gründet die Muslimbruderschaft. In einer Grundsatzschrift "Aufbruch zum Licht" fordert al-Banna 1936 "die Förderung des Geistes des Islam in den Ämtern der Regierung", die "Kontrolle des persönlichen Verhaltens der Beamten" und die "Beendigung ausländischer Verfremdung in den Haushalten im Blick auf Sprache, Sitten, Kleidung, Kindermädchen, Ammen".

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Die Muslimbruderschaft breitet sich schnell aus - in der arabischen Welt und in muslimisch geprägten Ländern Asiens. Doch schon früh gibt es einen Gegenentwurf. Dieser kommt von Gamal Abdel Nasser. Mit Hassan al-Banna verbindet Nasser der Protest gegen die britische Vorherrschaft über Ägypten und der Widerstand gegen den schwachen und korrupten König Farouk.

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Nasser liest viel - im Gegensatz zu al-Banna nicht nur intensiv den Koran, sondern auch Autoren wie Mahatma Gandhi, Voltaire, Victor Hugo sowie Schriften seines ägyptischen Landsmannes Mustafa Kemal, eines national ausgerichteten Politikers. Nasser, stets frommer Muslim, sieht die Zukunft seines Landes nicht im politischen Islam, sondern in sozialistischen Entwürfen. Nasser wird Offizier, im Untergrund gründet er mit Gesinnungsgenossen das "Komitee der freien Offiziere".

Diese nehmen Kontakt auf zu den Muslimbrüdern, denn beide verbindet die Sorge um die Zukunft Ägyptens. Manche Offiziere werden heimlich Mitglieder der Bruderschaft. Im Untergrund bilden Offiziere Mitglieder des militärischen Zweiges der Muslimbrüder im Gebrauch von Waffen aus. In den Krieg gegen Israel von 1948 schicken die Muslimbrüder ihr eigenes Kontingent; ein Mitglied dieser Streitkraft ist der in Kairo geborene Jassir Arafat (dessen Widerstandsbewegung Fatah später in gar keiner Weise der islamistischen Ideologie anhing). Nasser selbst kämpft in Palästina in einem Kontingent der ägyptischen Armee.

Die Frage, ob Gewalt anzuwenden sei gegen die verhasste Staatsmacht des Königs, beantworten die Muslimbrüder und die "freien Offiziere" nach dem Krieg auf ihre Weise. Die Brüder erschießen Premierminister Fahmi an-Nukrashi, worauf dessen Nachfolger 1949 Hassan al-Banna ermorden lässt. Die "freien Offiziere" putschen im Juli 1952 und schicken König Farouk ins Exil der römischen Nachtclubs.

Damit aber beginnt die Konfrontation zwischen den Brüdern und den Offizieren, zwischen muslimischem und westlichem Zukunftsentwurf. Während einer Rede in Alexandria wird 1954 auf Nasser geschossen, er macht die Muslimbrüder verantwortlich. Eine Welle der Verfolgung bricht über sie herein. Die Hatz findet ihren Höhepunkt 1966 in der Ermordung von Sayed Qutb, dem neuen Idol der Bruderschaft, und im Verbot der frommen Vereinigung.

Akt zwei des Politdramas beginnt nach Nassers Tod 1970. Anwar el-Sadat, einst Mitglied im "Komitee der freien Offiziere" und Nassers Vizepräsident, wird Nachfolger seines Kameraden. Doch Sadat hat ein politisches Konzept, das sich diametral von jenem seines Vorgängers unterscheidet. Sozialismus? Nein - er will die politische und wirtschaftliche Öffnung zum Westen. Und er sucht eine neue Machtbasis, die sich nicht mehr vor allem auf Nassers Anhänger stützen soll. In Frage kommen nur die Religiösen. Sadat öffnet die Gefängnisse, die Bruderschaft schwört der Gewalt ab.

In den Nachbarstaaten ist das anders. In Palästina geht aus der Bruderschaft 1987 die "Islamische Widerstandsbewegung" (Hamas) hervor. In Jordanien ist sie ins politische Leben integriert, dort sitzen die Brüder sogar im Parlament. In Syrien dagegen hatten sie sich 1982 in der Stadt Hama festgesetzt. Das sich auf die Minderheit der Alawiten stützende Regime von Präsident Hafis al-Assad macht 1982 mit Luftwaffe und Bodentruppen Hama fast dem Erdboden gleich, etwa 20000 Einwohner sterben.

Sadat, der abends gerne seinen Whisky trinkt, lässt sich als Präsident am Freitag betend in den Moscheen Kairos sehen - stets gefilmt vom Staatsfernsehen. Ein neues Radioprogramm, Radio Koran, widmet sich der Lesung von Suren aus der heiligen Schrift der Muslime. Um sich noch intensiver als frommen Muslim zu präsentieren, lässt Sadat einen Passus in die Verfassung aufnehmen, wonach die Scharia, das islamische Gesetz, "Teil" der Rechtsprechung Ägyptens sein solle. Die Revitalisierung des Islam ist ein Mittel, Nasseristen und die gesamte Linke zu bekämpfen. Die Strategie hat ihre Vorbilder - und fatale Folgen.

Schon die Briten hatten, so argumentieren einige Historiker, die Bruderschaft benutzt, um diese gegen die ägyptische Wafd-Partei auszuspielen, die in den 1930er Jahren gegen Londons Vorherrschaft kämpfte. Später versuchten die USA mit Millionen von Dollar, die sie auf das Schweizer Bankkonto von Sayyid Ramadan, dem damaligen Führer der Bruderschaft, überwiesen, den unbotmäßigen Nasser zu schwächen. In den späten 1980er Jahren stützte Israel die Hamas, um ein Gegengewicht zu Arafats Fatah aufzubauen. Und schließlich rekrutierten die USA die afghanischen Taliban für ihren Kampf gegen die sowjetischen Besatzer Afghanistans. So trug der Westen dazu bei, ein Monster zu schaffen, von dem er sich jetzt bedroht fühlt.

Auch Sadats gefährliches Spiel mit der religiösen Karte zeitigt schnell unerwünschte Nebenwirkungen. Im Untergrund bilden sich Organisationen wie die Gamaa al-Islamija (Islamische Gruppe) und der Dschihad Islami (Islamischer Heiliger Krieg), die mit Terror das System stürzen wollten. Dem Monster, das Sadat geschaffen hat, fällt er selbst zum Opfer. Bei einer Parade erschießt am 6.Oktober 1981 Khaled al-Islambuli, ein Mitglied der Gamaa, Präsident Sadat. Protest gegen die westliche Lebensausrichtung und gegen die Korruption ist ebenso ein Grund für das Attentat wie Sadats Canossagang nach Jerusalem (so sehen die Islamisten den 1979 geschlossenen Friedensvertrag mit Israel).

Am Beginn von Akt drei des Politdramas steht der ehemalige Luftwaffenoffizier und Vizepräsident Sadats - Hosni Mubarak. Er beginnt mit einer versöhnlichen Politik. Er lässt viele politische Gefangene frei. Doch bis heute wird Mubarak von einem traumatischen Erlebnis heimgesucht. Bei der Ermordung Sadats stand er neben dem Präsidenten. Angst vor Attentaten durch religiöse Extremisten bestimmt seine Haltung - auch Angst vor einem Attentat durch die inzwischen gezähmten Muslimbrüder. Tatsächlich überlebt Mubarak etwa sechs Anschläge auf sein Leben. Hintermänner aber sind Mitglieder der Gamaa al-Islamija und des Islamischen Dschihad, die Muslim-brüder sind nicht beteiligt. Doch regelmäßig, besonders vor Wahlen, lässt Mubarak reihenweise Mitglieder der Bruderschaft verhaften.

In den 1990er Jahren verüben Untergrundkämpfer der Gamaa und des Dschihad reihenweise Attentate in Ägypten. Zwischen 1993 und 2006 kommen bei Anschlägen gewalttätiger Islamisten weit mehr als 200 Menschen, meistens ausländische Touristen, ums Leben. Bei keinem dieser blutigen Exzesse war die Bruderschaft beteiligt. Hosni Mubarak lässt in diesen Jahren etwa 15000 Ägypter verhaften, viele von ihnen sitzen jahrelang ohne ordentlichen Prozess in ihren Zellen. Mubarak hält sie für mögliche Terroristen, den wenigsten aber können Verbindungen zum Terrornetzwerk nachgewiesen werden. Dem Westen gegenüber argumentiert er, man müsse entweder seine Politik unterstützen oder das Chaos in Kauf nehmen. Als jüngere Mitglieder der Bruderschaft vor ein paar Jahren eine gemäßigte islamische Partei Wasat (Mitte) gründen wollen, verweigert das Regime die Zustimmung.

Hat die Bruderschaft die ägyptische Gesellschaft verändert? Die Renaissance des Islam begann, als die Bruderschaft noch verboten war - nach der Niederlage der arabischen Armeen gegen Israel 1967. Nassers Ideologie des Pan-Arabismus und des Sozialismus war gescheitert, die Ägypter wandten sich ihren eigenen Wurzeln zu - dem Islam. Zweifellos hat die Bruderschaft den islamischen Trend gefördert. Aber auch sie hat sich gewandelt - durch den Kontakt mit einer Gesellschaft, die den Extremismus und religiöse Gewalt ablehnt, ist sie offener geworden für Ideen wie Demokratie und universelle Menschenrechte. So erlebt Ägypten heute einen tiefen Einschnitt.

Die Bruderschaft aber, welche die Gesellschaft mit Terror verändern wollte, ist friedlicher Teil dieser Gesellschaft geworden. Sie ringt am Verhandlungstisch, wenn auch nicht auf Augenhöhe, mit ihren einstigen Peinigern um ein neues Ägypten. Das nächste Kapitel im ewigen ägyptischen Drama wird in diesen Tagen eröffnet.

© SZ vom 12.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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