Süddeutsche Zeitung

Linke:Erstaunlich dickfellig

Ungeachtet der drastischen Wahlniederlage lässen sich Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali als Fraktionschefs bestätigen. Wie ein Aufbruch zu Neuem wirkt das nicht.

Von Boris Herrmann, Berlin

Einen Tag vor der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestag, also praktisch im letzten Moment, hat auch die Linke ihre neuen Fraktionsvorsitzenden gewählt. Es sind die alten: Dietmar Bartsch, 63, und Amira Mohamed Ali, 41. Bartsch sagte nach der Wahl am Montagnachmittag: "Wir werden mit neuem Schwung in die nächste Legislatur gehen." Mohamed Ali sprach von einer "sehr guten Sitzung in großer Einigkeit". Es klang ein bisschen so, als ob es die Bundestagswahl 2021 nie gegeben hätte.

Die Linke war bei dieser Wahl auf 4,9 Prozent abgestürzt. Nur dank dreier Direktmandate schaffte sie es trotzdem wieder in den Bundestag, allerdings in stark dezimierter Mannschaftsstärke von 39 statt 69 Abgeordneten. Die Parteivorsitzende Janine Wissler hatte nach diesem Debakel gesagt, man könne jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Aber offenbar kann man doch.

Bartsch und Mohamed Ali erhielten in getrennten Wahlgängen exakt das gleiche Ergebnis. Beide wurden mit 76,9 Prozent der Stimmen in ihrem Ämtern bestätigt. Es gab keine Gegenkandidaten. Mohamed Ali sagte: "Ich glaube, dass wir heute einen großen Schritt gemacht haben als Fraktion". Die Frage ist nur: wohin?

Dietmar Bartsch hatte die Linke nicht nur als Fraktionschef, sondern auch als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl geführt. Es wäre kein allzu verwegener Gedanke gewesen, für das desaströse Ergebnis nun die politische Verantwortung zu übernehmen. So sieht das auch eine größere Minderheit seiner Fraktion. Das letztlich überraschend gute Wahlergebnis täuscht über das Ausmaß des Frustration hinweg. All jene aber, die bis zuletzt an ein Aufbruchssignal mit einer neuen Doppelspitze geglaubt hatten, unterschätzten wieder einmal Bartschs erstaunliche Dickfelligkeit.

Kritiker wollten Bartsch und Ali noch davon abbringen

Der Fraktionschef hatte offenbar schon kurz nach der Wahl in den eigenen Reihen durchgezählt und war sich seiner Loyalitäten sicher. Dazu gehört neben Bartschs eigenem ostdeutschen Reformer-Lager auch der formell linke Flügel der Fraktion, in dem weiterhin Sahra Wagenknecht die Strippen zieht. Trotz aller inhaltlichen Unterschiede bilden Bartsch und Wagenknecht seit Jahren ein strategisches Machtbündnis, das oft als Hufeisen beschrieben wird.

Kraft dieses Hufeisens kam vor zwei Jahren auch die bis dahin weitgehend unbekannte Mohamed Ali zu ihrem Führungsjob. Und obschon sie, wie Spötter aus den eigenen Reihen sagen, bis heute nicht wesentlich bekannter ist, darf auch sie nun weitermachen. Bartsch und Mohamed Ali konnten seit Tagen von einer erfolgreichen Wiederwahl ausgehen. Entsprechend selbstbewusst sollen sie in einer Sondersitzung des Parteivorstandes am Sonntag aufgetreten sein.

Diese Sitzung war von einem besonders unzufriedenen Teil des Bundesvorstandes mit dem Ziel einberufen worden, Bartsch und Mohamed Ali doch noch davon zu überzeugen, sich von der Fraktionsspitze zurückzuziehen. Der entsprechende Antrag wurde aber mit 15 zu acht Stimmen abgelehnt. Besser als die Abstimmung vom Montag, die wohl auch vom Fatalismus der Unzufriedenen geprägt war, dass die Wiederwahl der Fraktionsvorsitzenden ohnehin nicht mehr zu verhindern sein würde, illustrierte das Votum des Parteivorstands die Zerrissenheit der Linken in zentralen Personalien.

Personalfragen seien jetzt nicht entscheidend, es gehe erst einmal um eine tiefergehende Analyse, sagen Bartsch und Mohamed Ali nahezu unisono - und im eigenen Interesse. Es gibt aber auch einflussreiche Linke, die das anders sehen. Vorstandsmitglied Jan van Aken rief Bartsch vor einigen Tagen via Twitter zum Rücktritt auf. Es brauche nun "die kluge Einsicht von Dietmar, jetzt in Würde Platz zu machen für einen Neuanfang." Auch der ehemalige Parteichef Bernd Riexinger, der weiterhin der Bundestagsfraktion angehört, sprach sich öffentlich für einen Wechsel an der Fraktionsspitze aus.

Für Wissler und Hennig-Wellsow gelten mildernde Umstände

Klaus Ernst, ein anderer ehemaliger Parteichef, plädiert wiederum dafür, den gesamten Parteivorstand neu wählen zu lassen, also auch die weibliche Doppelspitze um Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow. Die aber sind erst seit acht Monaten im Amt, deshalb werden ihnen in weiten Teilen der Partei mildernde Umstände zugebilligt.

Bei einem wie Bartsch, der seit Jahrzehnten in wechselnden Führungsfunktionen dabei ist, sieht das anders aus. Dass er trotzdem noch einmal die Gelegenheit sah, den Fraktionsvorsitz zu übernehmen, hängt auch mit einem Mangel an ernsthaften Alternativen zusammen. Zwar gibt es in der Linksfraktion große Sympathien für eine Doppelspitze aus Wissler und dem Parlamentarischen Geschäftsführer Jan Korte. Aber Wissler wollte schlichtweg nicht, sie fühlt sich mit dem Parteivorsitz offenbar genug ausgelastet. Und Korte gilt als einer der loyalsten unter den Bartsch-Loyalen, er würde wohl erst an dem Tag nach dem Fraktionsvorsitz greifen, an dem sein politischer Ziehvater freiwillig abträte.

Es gibt auch Abgeordnete bei den Linken, die sich noch eine andere Rochade hätten vorstellen können. Demnach hätte man Bartsch den Verzicht auf den Fraktionsvorsitz mit dem Amt des Bundestagsvizepräsidenten schmackhaft machen können. Dann hätte aber ausgerechnet Petra Pau daran glauben müssen, die als Vizepräsidentin des Bundestags parteiübergreifende Anerkennung genießt. Von ihrem Kaliber hat die Linke nicht mehr viele. Und das wäre dann wirklich ein extrem absurdes Aufbruchssignal geworden - alle bleiben, nur Pau nicht.

Am Montag wurde Petra Pau von ihrer Linksfraktion mit 92,1 Prozent der Stimmen zur Kandidatin für die Bundestagsvizepräsidentschaft gewählt.

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