Konsequenzen aus Stuttgart 21:Das Ende der Zuschauerdemokratie

Elemente der direkten Demokratie sind für die Politik unbequem - na und? Die "politische Klasse" muss sich eben um die Zustimmung des eigentlichen Souveräns bemühen: den Bürger.

Burkhard Hirsch

Es ist alles filigran geregelt, mit größter Akribie und mit der sprichwörtlichen Sorgfalt von Uhrmachern: die Raumordnungsplanung des Bundes, seine Rahmenkompetenz, die Ableitung der Regionalplanung der Länder, die Verkehrswege und Schienenplanung des Bundes je nachdem, ob ihm die darauf verkehrenden Bahnen gehören oder nicht, die Beteiligung von Umweltverbänden und schließlich die Möglichkeit für die betroffenen Bürger, der Anhörungsbehörde Bedenken, Anregungen, Betroffenheiten zu unterbreiten, die dann ihrerseits - mit oder ohne mündliche Verhandlung - der Entscheidungsbehörde einen Vorschlag macht.

Es sind lange Paragrafen, von bewunderungswürdigem ministerialen Formulierungsreichtum, von Wissen strotzende Kunstwerke, deren Urheber ganz gewiss einfache Abgeordnete nicht sein können. Man wagt sie nur ganz vorsichtig und langsam zu lesen, damit sie in ihrer administrativen Sorge um das wohlverstandene Gemeinwohl nicht gestört werden mögen. Die Rollen sind klar verteilt. Die Behörden planen und stellen fest, die betroffenen Bürger regen an oder wenden ein. Das letzte Wort hat ein Gericht, wenn es angerufen wird. Natürlich sind Anhörungen wichtig. Und eine Gerichtsentscheidung bestätigt, dass das Verfahren, ob nun sinnvoll oder nicht, jedenfalls nicht gegen Gesetz und Recht verstoßen hat.

Aber die Legalität befreit nicht von den Geboten der politischen Klugheit. Weder eine Planfeststellung noch ein richterliches Urteil sind dazu bestimmt und geeignet, die Überzeugung zu vermitteln, dass eine Sache politisch "richtig", also notwendig ist, auch wenn sie außerordentlich hohe Kosten verursacht und in die Befindlichkeit vieler Menschen einschneidet. In den gesetzlichen Regelungen über die Planverfahren sucht man vergeblich danach, wo und wie diese politische Frage gestellt, beantwortet und politisch vertreten wird.

Selbst parlamentarische Mehrheiten sind nicht von der politischen Pflicht befreit, sich ernsthaft und nachhaltig um die Zustimmung des eigentlichen Souveräns zu bemühen, nämlich um die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Bürger, die sie repräsentieren sollen. Ohne diese Rückkopplung verliert eine parlamentarische Demokratie Basis und Glaubwürdigkeit. Die "Repräsentanten" werden zur "politischen Klasse" - ein Unwort des Jahres -, die sich immer mehr auf ihre parlamentarische Mehrheit und ihre Rechtspositionen verlässt, und immer weniger auf die politische Kraft ihrer Argumente. Ein Bürger, der sich außerhalb des Systems zu Wort meldet, stört. Seine Einmischung wird als "Blockade", Verhinderung eines segensreichen Werkes empfunden.

Aber wer gegen etwas zu sein scheint, ist immer zugleich für etwas, nämlich für die Erhaltung dessen, was der andere beseitigen will. Es ist töricht, diejenigen, die von ihrem guten Recht auf Einmischung, auf Demonstration, Gebrauch machen, als egoistisch und wohlstandsverwöhnt zu diskreditieren. Da möchte man doch fragen, ob denn alle Befürworter eines Unternehmens angesichts der zu erwartenden erheblichen Investitionen ausschließlich von hehren ideellen und immateriellen Interessen bewegt sind! Es gibt nirgendwo nur Gutmenschen. Die Politik muss den Bürger ernst nehmen, so wie er ist.

"Verhinderungsdemokratie" als rhetorisches Instrument

Es ergibt einen immer größeren Widerspruch: Die politische und technische Entwicklung ermöglicht dem Bürger im privaten Bereich immer mehr, sich zu entwickeln und zu entfalten. Bei politischen Entscheidungen hingegen bleibt er Zuschauer, sofern er sich nicht entschließt, Berufspolitiker zu werden. Die Leute haben durch die moderne Informationstechnik die Möglichkeit, sich an allen denkbaren Debatten zu beteiligen, sich zu äußern, Meinungen zu bilden und zu erfahren oder Aktionen gemeinschaftlichen Verhaltens ohne großen organisatorischen Apparat zu organisieren. Sie tun das auch - und stellen zu ihrer Überraschung fest, dass die Politik von ihren unverblümt verkündeten Meinungen schlicht keine Kenntnis nimmt. Über Jahrzehnte wurden sie aufgefordert, aus der Rolle der Zuschauer herauszutreten. Nun tun sie es, weil sie unzufrieden sind, und keiner will es hören. Die Parteien führen das Stück "Parlamentarische Demokratie" auf und merken nicht, dass sie dabei immer mehr unter sich bleiben.

Appellants Hirsch and Rudolf Baum poses at the Constitutional Court in Karlsruhe

Burkhard Hirsch, 80, FDP, war von 1994 bis 1998 Vizepräsident des Bundestages. Er hat die Innenpolitik seiner Partei über Jahrzehnte geprägt.

(Foto: REUTERS)

Es ist ganz unvermeidbar, auch für die Bundespolitik das einzuführen, was es in allen Gemeinden und Ländern gibt: Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheid. Und es ist völlig unvermeidbar, bei der Planung von Großvorhaben zu sichern, dass nicht nur Behörden und Gerichte, sondern der Souverän selbst entscheiden kann, ob er sie haben will oder nicht.

Es ist schlichte Rhetorik, das als "Verhinderungsdemokratie" zu verhöhnen. Wer in Stuttgart gegen den Bahnhof ist, der ist dafür, den gegenwärtigen Zustand zu erhalten und die vorhandenen Mittel für andere Zwecke einzusetzen. Und umgekehrt.

Es ist schlichte Rhetorik, Volksentscheide grundsätzlich abzulehnen, weil sie für den Bürger zu kompliziert seien. Wieso wird dann die Zustimmung des Bürgers daraus hergeleitet, dass er doch diejenigen gewählt habe, die das Projekt befürworten? War die Wahl für ihn dann nicht auch zu kompliziert?

Elemente der direkten Demokratie sind für die Politik unbequem. Sie ist gezwungen, zum Bürger zu gehen, ihre Vorhaben zu erklären, für sie zu werben, die Zustimmung der Mehrheit der Betroffenen einzuholen, und dabei möglicherweise zu scheitern. Na und? Sie wird lernen, geduldig zu sein und dass es die Aufgabe der Polizei ist, einen Landfriedensbruch zu verhindern, aber nicht, die fehlende Zustimmung mit polizeilichen Mitteln zu ersetzen.

Warum sollte es in Baden-Württemberg nicht möglich sein, für die Beteiligung des Staates an Großvorhaben zumindest die Möglichkeit eines Volksentscheids vorzusehen, wenn es nach der Verfassung sogar möglich ist, den Landtag durch Volksentscheid aufzulösen? Der Landtag hat am Donnerstag entschieden, das Volk nicht über den Bahnhof, den Tunnel und die Strecke nach Ulm abstimmen zu lassen. Er wird sich dennoch überlegen müssen, dass wir über die Demokratie reden, und nicht nur in Baden-Württemberg. Und die Landesregierung sollte darüber nachdenken, ob sie die Fortsetzung ihrer gesamten Politik vom Umbau eines Bahnhofs abhängig machen will.

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