Süddeutsche Zeitung

Die Grünen und Stuttgart 21:Ehrenvoll verlieren - und dann endlich regieren

Kämpfen wollen sie, das schon. Aber ob sie gewinnen? Heute will die grün-rote Regierung in Baden-Württemberg die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 auf den Weg bringen. Doch es spricht wenig dafür, dass die Grünen das Bahnhofsprojekt noch stoppen können. Manch einer könnte sich mit einer Niederlage mittlerweile gut arrangieren. Denn der Streit belastet die Koalition - zumal die SPD mit der Opposition flirtet.

Roman Deininger

Winfried Kretschmann hatte langen Anlauf genommen. Mehr als 24 Stunden hatten er und seine grünen Minister geschwiegen, nachdem sie ihren Koalitionspartner SPD im Flirt mit der CDU erwischt hatten - oder zumindest im Gespräch über eine gemeinsame Kampagne für Stuttgart 21. Und eigentlich war der Anlauf noch viel länger: In vier Regierungsmonaten war der Landesvater Kretschmann nicht ein Mal durch Strenge aufgefallen. Aber am Dienstag verpasste er den Sozialdemokraten eine kräftige Ohrfeige.

"Es kann kein Bündnis eines Koalitionspartners mit der Opposition gegen einen Koalitionspartner geben", sagte Kretschmann. "Das geht nicht." Der Watschenempfänger, SPD-Chef und Finanzminister Nils Schmid, saß bedröppelt daneben.

Die Ankündigung, die Vergrabung des Stuttgarter Hauptbahnhofs um fast jeden Preis zu verhindern, hat Kretschmann an die Macht getragen. Sehr schnell aber sind ihm die Wahlkampfparolen zur Last geworden. Es gibt einen Preis, den er eben nicht bezahlen will: Dass sein grün-roter Aufbruch im Gezänk um den Bahnhof steckenbleibt.

"Da habe ich den Mund etwas voll genommen"

Die Grünen haben Stuttgart 21 Hürde um Hürde in den Weg gestellt und das Projekt doch nicht zu Fall gebracht. Und die meisten glauben auch nicht mehr daran, dass das noch gelingt. Inzwischen hat Kretschmann etwa seine Überzeugung korrigiert, Stuttgart 21 werde an der verfassungswidrigen Mischfinanzierung durch Bund und Land scheitern. "Da habe ich den Mund etwas voll genommen", sagt er. "Das ist allübliche Praxis."

Der Regierungschef will einfach nur regieren, und am 27. November um kurz nach 18 Uhr soll es losgehen. Die Volksabstimmung, hofft sein Umfeld, werde ihm den Bahnhofsrucksack endlich abnehmen. Selbst, wenn er sie verliert. "Unsere Leute erwarten, dass wir kämpfen, und das werden wir", sagt ein einflussreicher Grüner. "Aber eine ehrenvolle Niederlage könnte für uns ein moralischer Sieg sein."

Der Katholik Kretschmann weiß, dass nur ein "politisches Wunder" die Bahnhofsgegner retten kann. Alle Umfragen sehen die Befürworter vorn. Außerdem ist das Quorum für einen Volksentscheid im Südwesten grotesk hoch: Ein Drittel der Wahlberechtigten müssten gegen Stuttgart 21 votieren, gut 2,5 Millionen Menschen - weit mehr, als für Grüne und SPD bei der Landtagswahl gestimmt haben.

An diesem Freitag bringt die Regierung ihr S21-Kündigungsgesetz in den Landtag ein; das soll der Anfang vom Ende des Streits um den Bahnhof sein. Die Ablehnung des Gesetzes durch SPD, CDU und FDP soll den Weg frei machen für die Volksabstimmung. Die Idee, die Bürger entscheiden zu lassen, ist der Leim, der die in der Bahnhofsfrage gespaltene Koalition zusammenhält. Aber sie garantiert auch eine ganze Menge Ärger: Die Partner werden im Wahlkampf vor dem Referendum zu Gegnern.

Grundsätzlich haben Grüne und Rote schon in den Koalitionsverhandlungen besprochen, dass man für diese Ausnahmesituation Regeln brauche. Nun allerdings hat die SPD durch ihr Treffen mit der CDU die Regeln bereits gebrochen, bevor sie überhaupt konkretisiert werden konnten.

Dass die SPD mit der CDU reden würde, war allen klar; dass sich Landtagsfraktionschef Claus Schmiedel dabei lachend fotografieren lassen würde, eher nicht. Obendrein hatten es die Sozialdemokraten verpasst, dem Koalitionspartner vorher Bescheid zu sagen.

Natürlich gefallen sich die Grünen jetzt in der Rolle der Gehörnten mit Recht auf Wehgeschrei. Aber Kretschmanns harsche Reaktion darf wohl durchaus als bitterernste Warnung an seine Koalitionäre verstanden werden, sich doch jetzt bitte keine Verletzungen zuzufügen, die auch nach dem 27. November noch schmerzen.

Der Termin darf als gesichert gelten

Grün-Rot war nie die selbst ausgerufene "Liebesheirat". Im Kabinett arbeitet man zwar ordentlich zusammen, zumal sich der lange vorlaute grüne Verkehrsminister Winfried Hermann plötzlich im Leisetreten übt. Superminister Schmid aber drängt arg ungestüm aus dem Schatten der Lichtfigur Kretschmann. Und im Landtag sind sich die Grünen und die eher konservative SPD-Fraktion fremd geblieben. Da wird auch der vereinbarte "Volksabstimmungsknigge" (Schmid) Ungemach nicht völlig unterbinden können.

Die Grünen haben sich längst der Kampagne des "Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21" angeschlossen; die SPD will im Rahmen des Vereins "Pro Stuttgart 21" Seit an Seit mit CDU und FDP Wahlkampf machen. Neben den Grünen muss Schmid dabei auch Rücksicht auf die vielen Bahnhofsgegner an der eigenen Basis nehmen.

Dass die Volksabstimmung am 27. November stattfindet, darf als gesichert gelten: Nach der FDP erklärte auch die CDU am Donnerstag ihren Verzicht auf eine Verfassungsklage gegen das Referendum. Keiner möchte dastehen als jemand, der dem Volk den Mund verbietet. Und im Gegensatz zu den Grünen darf die Opposition damit rechnen, dass das Volk in ihrem Sinne spricht.

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SZ vom 16.09.2011/mikö
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