Baden-Württemberg:Der Grüne, der den Pazifismus nicht aufgeben will

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Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gebe es eine „Remilitarisierung“ in Deutschland, beklagt Winfried Hermann. (Foto: dts Nachrichtenagentur/IMAGO)

In den Achtzigern galten die Grünen als Heimat der Friedensbewegung. Heute rufen Politiker der Partei laut nach neuen Waffen für die Ukraine. Der Verkehrsminister von Baden-Württemberg möchte das nicht akzeptieren – und seine Partei an ihre Wurzeln zurückführen.

Von Roland Muschel, Stuttgart

Als Winfried Hermann 1982 bei den Grünen eintrat, war er sich sicher: Diesmal würde es passen. Es würde anders laufen als bei der SPD, die er Jahre vorher verlassen hatte, als Helmut Schmidt die Stationierung von Pershing-II-Raketen befürwortete. Das wollte Hermann nicht unterstützen, im Gegenteil. Er, der Pazifist, der den Dienst an der Waffe verweigert hatte, ging dagegen auf die Straße.

Bei den Grünen fühlte er sich deshalb gut aufgehoben. Anders als bei der Schmidt-SPD war die Friedensbewegung in der neuen Partei eine zentrale Strömung. Dass grüne Hippies mit langen Haaren und von berauschenden Substanzen damals beseelt auf Parteitagen das Wort Frieden getanzt hätten, war zwar eher ein Mythos. Aber wenn es zu jener Zeit eine pazifistische Partei in Deutschland gab, dann doch die Grünen.

Für die Parteispitze ist die Initiative die maximale Provokation

An einem heißen Sommernachmittag sitzt Hermann in seinem Ministerbüro im Stuttgarter Dorotheen Quartier, sechster Stock, vom Fenster aus sieht man in der Ferne die Kräne des Bahnprojekts Stuttgart 21. In den vergangenen 13 Jahren hat sich Hermann vor allem als baden-württembergischer Verkehrsminister einen Namen gemacht. Doch in diesen Tagen besinnt sich der drahtige 72-Jährige auch wieder stärker auf seine pazifistischen Wurzeln. Jetzt, wo infolge des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine wieder US-Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert werden sollen, so wie damals, zu Beginn der Friedensbewegung. Nur, dass diesmal auch eine grüne Bundesaußenministerin die Raketen-Pläne offensiv vertritt.

Seit Beginn des Ukraine-Krieges gebe es eine „Remilitarisierung Deutschlands“, sagt Hermann in seinem Büro, und dass er dabei nicht tatenlos zusehen wolle. Mit Mitstreitern hat Hermann deshalb eine Initiative gegründet, „Aufbruch zum Frieden“, mit dem Ziel, eine öffentliche Debatte über politische Lösungen für den Ukraine-Krieg anzustoßen. Sie ist überparteilich, aber für die grüne Parteiführung in Berlin natürlich die maximale Provokation.

Und so lässt sich an Hermanns Biografie nicht nur erzählen, wie sich die Grünen gewandelt haben von einer als pazifistisch geltenden Partei hin zu einer Partei, in der Leute wie der Europapolitiker Anton Hofreiter das Bild bestimmen, der sich binnen kurzer Zeit den Ruf eines sehr soliden Waffenexperten („Panzer-Toni“) erarbeitet hat. Hermanns Initiative provoziert auch die Frage, ob die Partei ihre pazifistischen Wurzeln ganz gekappt hat oder ob da womöglich etwas nachwächst.

Die Bevölkerung sei kriegskritischer als die politische Führung, sagt Hermann

Die „Remilitarisierung Deutschlands“ fange bei der Sprache an, führt Hermann seine Analyse aus. „Dass ein Verteidigungsminister, der sagt, Deutschland müsse wieder kriegstüchtig werden, der beliebteste Politiker der Republik ist, halte ich für eine groteske Entwicklung. Im Grundgesetz gibt es das Friedensgebot!“ Es klingt, als lodere in ihm wieder etwas. „Die Bevölkerung ist nach Umfragen andererseits sehr viel kriegskritischer als die politische Führung“, sagt Hermann. Er sieht das auch als Schwäche seiner Partei, als großen Fehler. „Die Grünen haben auch aufgrund ihrer Ukraine-Politik einen Teil ihrer Zustimmung verloren. Dass unsere Leute oft sehr laut neue Waffen fordern, finden viele schwer erträglich und fahrlässig.“

Nun neigen viele Wahlforscher eher zu der Ansicht, dass die Debatte um das Heizungsgesetz die aktuelle Misere der Grünen maßgeblich beförderte. Aber festhalten lässt sich schon auch, dass die grassierende Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung fast ausschließlich von Parteien adressiert wird, bei denen die Grenzen zwischen Friedensbotschaften und anbiedernder Putin-Verharmlosung fließend sind: von der AfD und dem Bündnis Sarah Wagenknecht, den beiden eigentlichen Gewinnern der jüngsten Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen.

Wenn es um Fragen von Krieg und Frieden geht, ist Hermann Kummer mit seiner Partei gewohnt. Klar, am Anfang schien alles zu passen. Sogar die Leute, die kurz vor Gründung der Grünen noch Geld für Waffen für den revolutionären Kampf in El Salvador gesammelt hatten, gaben sich auf einmal strikt pazifistisch. In den ersten Jahren waren zentrale Beschlüsse konsequent „antimilitaristisch“: für gewaltfreien Widerstand, für Abrüstung, gegen die Nato und den Nato-Doppelbeschluss.

2001 stimmte Hermann als Abweichler gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan

Doch mit der ersten grünen Regierungsbeteiligung 1998 kam die Wende. Nach dem Rostocker Parteitag 2001, auf dem auch die grüne Basis ihr Plazet zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan gab, habe die Mehrheit der Partei zunehmend Militäreinsätze zum „Schutz der Menschenrechte“ gerechtfertigt und ihnen zugestimmt, sagt Hermann. Seine Position kam immer mehr in die Defensive.

Als der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder 2001 die Vertrauensfrage mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan verknüpfte, gehörte Hermann zu den vier grünen Abgeordneten, die mit Nein stimmten. Drei Abweichler mehr, und die rot-grüne Koalition wäre am Ende gewesen. Hermann sah das Dilemma, aber für ihn war es ein Gewissensfall. „Ich kann nicht bei der Verweigerung des Kriegsdienstes sagen, ich töte in keinem Fall, und dann in der politischen Verantwortung sagen, okay, ich nehme völkerrechtlich umstrittene Einsätze mit Toten und Verletzten in Kauf.“

Auf überbordendes Verständnis in seiner Partei stieß er mit dieser Haltung nicht. Irgendwann entschied Hermann, sich auf Verkehrsthemen zu konzentrieren, einen Bereich, bei dem er mit der Mehrheit bei den Grünen weiter einer Meinung war. Sonst hätte er irgendwann vor der Frage gestanden, ob es denn noch passt mit ihm und den Grünen.

„Angriffswaffen? Da gehe ich nicht mit.“

Und hätte seine Partei, hätte die Ampel in Berlin während des Ukraine-Krieges nicht weitere Tabus aus den grünen Gründerjahren wie die Lieferung von Waffen in Kriegsgebiete für obsolet erklärt, Hermann hätte seinen politischen Wirkungskreis weiter auf die Verkehrswende konzentriert. Aber es habe ihn innerlich getrieben, „als die notwendigen Debatten zum Ukraine-Krieg ausblieben und niemand die naheliegenden Fragen stellte“.

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Welche Fragen er meint? Hermann überlegt nicht lange: „Was macht die Ukraine mit den Waffen, die wir liefern? Kann der Krieg mit immer stärkeren Waffen gewonnen werden? Oder: Rutschen wir über die Eskalation des Waffeneinsatzes in einen dritten Weltkrieg? Welche diplomatischen Möglichkeiten für einen Frieden gibt es?“ Er nehme nicht für sich in Anspruch, Antworten zu haben, genau zu wissen, wie es geht, sagt Hermann. Er wolle auch nicht innerhalb der Grünen einen Flügelkampf eröffnen, „das ist sinnlos“. Vielmehr wolle er eine Debatte über Verhandlungslösungen anstoßen, ohne deswegen gleich als „Putin-Versteher“ angegangen zu werden, das müsse doch möglich sein. „Wir müssen über einen Strategiewechsel nachdenken, weil der militärische Weg offenbar nicht zum Frieden führt.“

Es ist nicht so, dass Hermann sich inhaltlich nicht bewegt hätte in all den Jahren. Der erste Schritt erfolgte schon in den Achtzigerjahren mit der „Einsicht, dass Blauhelme bewaffnet sein müssen. Ganz früher hätte ich sogar das abgestritten“. Der zweite Schritt ging einher mit den Debatten der jüngsten Zeit: „Ich kann Waffen zur Verteidigung akzeptieren. Aber Angriffswaffen? Da gehe ich nicht mit.“ Die Lieferung von Panzern und Raketen, die dazu dienten, Gelände zu erobern, lehne er ab. Im Vergleich zu dem Tempo, das seine Partei vorlegt, sind Hermanns Bewegungen Trippelschritte. Die Distanz wird größer, nicht kleiner.

Ein schwüler Sommerabend im Kulturzentrum Merlin im Stuttgarter Westen, einer Grünen-Hochburg in der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Hermann sitzt mit einem SPD-Mitglied, einer Pfarrerin und einem Friedensforscher auf Einladung der Wochenzeitung Kontext auf dem Podium, das Quartett stellt seine Initiative „Aufbruch zum Frieden“ vor. Die Stuhlreihen sind voll besetzt, im Publikum sitzen viele Veteranen der Friedensbewegung, aber kaum junge Menschen.

Hermann sagt, Ziel der Initiative sei es zunächst einmal, „die monokausale Diskussion in Medien und Parteien aufzubrechen“, man werde jetzt nicht gleich eine neue Bewegung gründen. Aber auch damals habe es gedauert, bis die Friedensbewegung dann ein ziemlicher Erfolg geworden sei. „Man braucht in dieser Angelegenheit mindestens so viel Geduld wie in der Verkehrspolitik.“

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