Bundestagswahl:Raus aus der Blase

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Franziska Brantner (l.) und Ricarda Lang: die neue und die alte Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen beim Landesparteitag der Grünen in Baden-Württemberg in Reutlingen. (Foto: Bernd Weißbrod/dpa)

In Baden-Württemberg droht den Grünen ein besonderer Bedeutungsverlust. Ein ungleiches Spitzenduo will das verhindern. Es gibt aber auch zahlreiche Kampfkandidaturen um sichere Listenplätze, getreu dem Motto: Rette sich, wer kann.

Von Roland Muschel, Reutlingen

In Baden-Württemberg sind die Grünen so etwas wie eine Volkspartei, zumindest sah es sehr lange Zeit so aus. Schließlich stellen sie seit 2011 in Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten, bei der Landtagswahl 2021 kamen sie auf 32,6 Prozent Zustimmung. Sie begannen bereits, sich als die „neue Baden-Württemberg-Partei“ zu bezeichnen, in Abgrenzung zur früheren Dauerregierungspartei CDU, der „alten Baden-Württemberg-Partei“. Doch an diesem Samstag, beim Listenparteitag des grünen Landesverbands für die Bundestagswahl, klingt es so, als habe die erfolgsverwöhnte Partei den Kontakt zum Wahlvolk etwas verloren, als müsse sie etwas ändern, sich erneuern.

In Baden-Württemberg liegen die Grünen in den Umfragen aktuell 16 Prozentpunkte hinter der CDU, auf Bundesebene unter den Werten der Bundestagswahl 2021. „Wir können die Wahlen nur gewinnen, wenn wir raus aus der Bubble gehen“, sagt Bundesminister Cem Özdemir am Samstag. Bei der früheren Bundesparteichefin Ricarda Lang klingen Analyse und Arbeitsauftrag ähnlich: „Raus aus unserer Komfortzone“, ruft sie den Delegierten in der Reutlinger Stadthalle zu. Und: „Raus aus unserer Blase!“

Eine für die Seele, eine für den Kopf

Alte und neue Wählergruppen wollen die Südwest-Grünen im Bundestagswahlkampf mit einem prominenten, aber auch ungewöhnlichen Spitzenduo ansprechen, mit Franziska Brantner und Ricarda Lang, der neuen und der alten Bundesvorsitzenden im Doppel. Brantner, 2021 Gewinnerin des Direktmandats in Heidelberg, ist nicht nur Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium. Sie gilt auch als enge Vertraute von Robert Habeck, dem Bundeswirtschaftsminister und grünen Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl.

Lang, 2021 auf Listenplatz 10 für den Wahlkreis Backnang – Schwäbisch Gmünd in den Bundestag eingezogen, wird der Parteilinken zugerechnet. Erst vor drei Monaten hat sie den Bundesvorsitz abgegeben, um den Grünen nach dem schlechten Abschneiden bei der Europawahl und bei den drei Landtagswahlen im Osten Deutschlands in diesem Jahr einen Neustart zu ermöglichen. Brantner soll diesen Neustart verkörpern, sie ist Langs Nachfolgerin an der Spitze der Bundespartei. „So ein Rücktritt ist auch ein Moment des Zweifels“, sagt Lang in ihrer Rede. Aber sie habe gemerkt, dass „in diesem Laden“ noch unheimlich viel Kraft stecke, dass auch in ihr noch unheimlich viel Kraft stecke. „Ich habe nicht fertig!“

Lang streichelt die Seele der Partei, Brantner zielt mit ihrer Rede auf die Köpfe. Nun soll das ungleiche Duo den drohenden Bedeutungsverlust der Grünen in ihrem Vorzeigeland abwenden. Ministerpräsident Kretschmann hatte sich im Vorfeld des Parteitags zwar als genereller Gegner von Doppelspitzen geoutet; aber die Delegierten stellen sich an diesem Samstag mit 92 Prozent Zustimmung für Brantner auf Listenplatz 1 und 94 Prozent für Lang auf Listenplatz 2 ziemlich geschlossen hinter die ungewöhnliche Idee, die neue und die zurückgetretene Bundesvorsitzende gemeinsam ins politische Schaufenster zu stellen.

Brantner will die Grünen als moderne Partei der Mitte positionieren, sie wirbt in ihrer Rede für Digitalisierung, mehr Bürgerbeteiligung und beschleunigte Genehmigungen für Windräder. Und sie stichelt gegen den verbliebenen Koalitionspartner in Berlin, die SPD und Bundeskanzler Olaf Scholz. „Wir Grüne, wir stehen für Freiheit und Freiheit in Europa, an der Seite der Ukraine“, sagt Brantner. Das Agieren der SPD sei dagegen kein kluges Abwägen. „Da crasht der Woidke-Zug auf den Pistorius-Zug.“

Zahlreiche Kampfkandidaturen um Listenplätze

Lang setzt andere Akzente. Als Partei der Mitte müssten die Grünen auch als Partei der sozialen Gerechtigkeit und nicht als Elitenprojekt wahrgenommen werden, sagt sie. Und sie kritisiert die Union: Wer den Wirtschaftsstandort retten wolle, brauche Mut zur Veränderung. Das Wettrennen um neue Klimatechnologien werde man aber verlieren, „wenn sich die Besitzstandswahrer der alten Technologien durchsetzen“. Man dürfe den Wirtschaftsstandort „nicht den Jens Spahns dieser Welt“ überlassen.

„Wir haben noch nicht fertig“, das ist die fast schon trotzige Botschaft, die dieser Parteitag aussenden soll. Aber die zur Schau gestellte Zuversicht kontrastiert dann doch etwas mit den zahlreichen Kampfkandidaturen. Bei der Bundestagswahl 2021 kamen die Grünen in Baden-Württemberg auf 17,2 Prozent der Zweitstimmen. Sie gewannen vier Direktmandate, in Stuttgart, Freiburg, Karlsruhe und Heidelberg, zudem kamen die ersten 14 Listenbewerber zum Zug. Und nun? Ist die Unsicherheit groß, ob sich das Wahlergebnis wiederholen lässt, der Gewinn von Direktmandaten. Und wie sich das neue Wahlrecht auf die Zahl der grünen Mandate auswirken wird. Aktuelle Prognose: eher nicht positiv. Das alles so bleibt, wie es ist, darauf will jedenfalls niemand seine politische Zukunft verwetten. Dass am Vortag des Parteitags eine Landtagsabgeordnete angekündigt hat, von den Grünen zur CDU zu wechseln, passt irgendwie ins Bild. Im Sommer hatte bereits die Bundestagsabgeordnete Melis Sekmen die Grünen verlassen, sie kämpft bei der Bundestagswahl im Februar nun als CDU-Kandidatin in Mannheim um das Direktmandat.

Im Vorfeld des Listenparteitags haben die Parteilager verhandelt, aber nur über die Verteilung der ersten sechs Listenplätze Einvernehmen erzielen können. Ab Listenplatz sieben kommt es am Samstag zu Kampfkandidaturen, aktuelle Abgeordnete gegen aktuelle Abgeordnete, aktueller Mandatsträger gegen aktuellen Mandatsträger, Reala gegen Linke, aber auch: gleiches Lager gegen gleiches Lager.

Rette sich, wer kann!

Özdemir blickt schon auf die Landtagswahl

Immerhin einer kann’s gelassen sehen: Cem Özdemir. 2021 bildete der aktuelle Berliner Doppelminister für Landwirtschaft sowie Bildung an der Seite von Franziska Brantner noch die Doppelspitze der Südwest-Grünen für die Bundestagswahl. Nun nutzt er die Reutlinger Parteitagsbühne für eine Art Bewerbungsrede für den übernächsten Urnengang, die Landtagswahl 2026. Es ist sein erster großer Auftritt, seit er Ende Oktober angekündigt hat, die Grünen als Spitzenkandidat in diese Landtagswahl führen zu wollen, Kretschmann hört dann auf.

Er stehe auch mit ein bisschen Wehmut auf der Bühne, sagt Özdemir, denn dieser Parteitag besiegle in gewisser Weise ja auch das Ende seiner bundespolitischen Karriere. Zu bereuen scheint er den Wechsel aber nicht. „Um es klar zu sagen: Ich trete an, um die Wahl zu gewinnen“, sagt er. Dazu aber benötige er die Unterstützung aller im Saal, den richtigen Spirit. Denn auch bei der Landtagswahl gelte: raus aus der Bubble.

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