EU-Parlament:Verhandlungs- oder Katzentisch

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Enttäuscht am Wahlabend: Die deutsche Spitzenkandidatin Terry Reintke war zuletzt Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion in Brüssel. (Foto: Christoph Söder/dpa)

Die Grünen sind die großen Verlierer der Europawahl. Wie viel sie in Brüssel und Straßburg künftig noch zu sagen haben, hängt nun von ihrem taktischen Geschick ab.

Von Jan Diesteldorf, Brüssel

Es ist eine Kunst, im Moment der größten Schmach erst einmal eine gute Nachricht zu erzählen. Ein wenig Zuversicht zu verbreiten, wo sonst Frust herrscht und die Erkenntnis reift, dass sich der Zeitgeist gegen einen gewendet hat. So taten das einige Menschen aus den Reihen der grünen Parteien Europas, als sie am Sonntag das Desaster des Europawahlabends im EU-Parlament erlebten: Ja, ja, das ist schon bitter alles, aber es gibt doch wahre Erfolge. Die Grünen sind stärkste Kraft in Dänemark, in Litauen schaffen es zwei neue grüne Parteien aus dem Stand auf zwei Sitze, das neue rot-grüne Bündnis aus Italien auf drei. Es ging was bei dieser Wahl.

Und doch haben die Wähler in Nord-, Mittel und Südeuropa den grünen Absturz nur etwas gedämpft: Die Fraktion fällt von 71 auf 52 Sitze. In Deutschland und Frankreich haben die Grünen diesmal fast genau so viel verloren, wie sie 2019 dazugewonnen hatten. So wie der Klimaschutz nach fünf Jahren grüner Welle in der Prioritätenliste weit unten steht, hinter Wohlstand und Wettbewerb, Sicherheit und Verteidigung, hinter Landwirtschaft und Migrationspolitik, so wird die Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament jetzt dastehen als nur noch sechstgrößte Fraktion, hinter Nationalisten und Rechtsextremen.

In Deutschland und Frankreich büßen sie 16 Mandate ein

Die Öko-Parteien haben diese Wahl dort verloren, wo beim vorigen Mal am meisten zu holen war, in Deutschland zugleich gestraft von Kernwählerschaft und Ampel-Frustrierten, in Frankreich überrollt von der nationalistischen Übermacht Marine Le Pens. Zusammen 16 Sitze büßen sie in den beiden Ländern ein, bei einem Minus von 19 insgesamt. Das konnte der Rest Europas nicht auffangen.

Mit der gesamten EU stehen die Grünen jetzt vor einer Richtungsentscheidung. Jahrelang hatten sie de facto mitregiert, konnten mitgestalten, wie Europa seine Emissionsgrenzwerte für Autos regelt oder Unternehmen zur Reinhaltung ihrer Lieferketten verpflichtet. „Wir brauchen ein entschlossenes und geschlossenes Auftreten der demokratischen proeuropäischen Mehrheit gegen die Rechtsextremen“, sagt Terry Reintke von den deutschen Grünen nun, die zuletzt Co-Vorsitzende der Fraktion war. Man sei bereit, „als verlässlicher und verantwortungsvoller Partner eine stabile demokratische Mehrheit“ zu bilden.

Sprich: als Teil einer Koalition Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin zu wählen. Denn deren Mehrheit in der Mitte – 402 von 720 Sitzen – hätte ein sehr knappes Sicherheitspolster, sie hätte wenig Abstand zu den 361 Stimmen, die von der Leyen mindestens braucht. Sollte sie nominiert werden, wird sie wohl auf politische Kräfte links und rechts des Mitte-Blocks aus Europäischer Volkspartei (EVP), Sozialdemokraten und Liberalen zugehen, also auch auf die Grünen.

Das hätte aber jeweils einen Preis für die Wahlsieger von der Europäischen Volkspartei und die Verlierer der Grünen, die von der Höhe dieser Preise sehr unterschiedliche Vorstellungen haben. In den Reihen der Konservativen sehnen sich viele nach einer Mitte-rechts-Koalition, die aufhört mit kleinteiliger Klima- und Umweltregulierung und die eine industriefreundliche Politik macht. Die Grünen, das sagt etwa EVP-Fraktionschef Manfred Weber bei vielen Gelegenheiten, hätten sich gerade nicht als zuverlässiger Partner erwiesen. Die Christdemokraten haben ihnen weder verziehen, dass sie nicht für Roberta Metsola als Parlamentspräsidentin gestimmt haben, noch, dass sie gegen das EU-Klimaschutzgesetz waren. Und auch nicht, dass sie den Kompromiss zur Reform der Asylpolitik abgelehnt haben.

Weber und von der Leyen „müssen sich entscheiden, wo sie stehen“, sagt Reintke

Die Grünen dagegen schauen auf die Gratwanderung, die von der Leyen vor sich hat und bei der sie auf der rechten Seite schneller abstürzen könnte als links. Reicht sie den Europäischen Konservativen und Reformern die Hand, die angeführt werden von Giorgia Melonis italienischer Regierungspartei Fratelli d’Italia, riskiert sie, dass ihr Stimmen etwa der SPD und der spanischen Sozialisten abhandenkommen. Das ist der Trumpf, den sie glauben, spielen zu können. Weber und von der Leyen „müssen sich entscheiden, wo sie stehen“, sagt Reintke, „auf der Seite der Demokratinnen und Demokraten oder auf der Seite rechtsextremer Mehrheitsbeschaffer“.

Das muss man als konkretes Angebot verstehen. Man wolle Teil einer demokratischen Mehrheit sein, sagt Reintkes Parteifreund Rasmus Andresen, „weil einfach zu viel auf dem Spiel steht“. Er verweist auf die Zugewinne der grünen Parteien in Skandinavien und den Niederlanden, die aus politischen Systemen kommen, bei denen lagerübergreifende Koalitionen üblich sind. Von roten Linien, außer jener der Zusammenarbeit mit nationalistischen Parteien, hält Andresen nichts. Natürlich aber, sagt er, werde man bei der Klimapolitik und sozialen Fragen ganz genau hinschauen.

Während den Grünen in den Augen der EVP jetzt Gelegenheiten fehlen, ihre Zuverlässigkeit noch zu beweisen, kursiert bereits die Idee von einer Art Vertrag: Man könnte programmatische Eckpunkte festhalten, an die sich die Partner dann halten sollen. Das schlägt etwa der grüne Abgeordnete Daniel Freund vor, wenn man ihn auf von der Leyen anspricht. In parlamentarischen Demokratien schreibe man üblicherweise einen Koalitionsvertrag, sagt er. Warum nicht auch etwas Ähnliches im EU-Parlament? Einfach so, ohne konkrete Zusagen, das macht er im Gespräch deutlich, werden die Wahlverlierer jedenfalls nicht für ein Bündnis zu haben sein: „Wenn es drauf ankommt, dann gehen wir eben in die Opposition.“

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