Süddeutsche Zeitung

Geschichte der Grünen:Langer Lauf zum deutschen Staat

Einst misstrauten die Grünen Polizei und Behörden zutiefst, viele Anhänger wollten nicht einmal Regierungsmacht. Die Jubiläumsfeier zeigt, welch weiten Weg die Partei zurückgelegt hat.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Es ist die Verbeugung vor einer Partei, die mal als Gefahr fürs Gemeinwesen galt. Heute kommt sie so staatstragend daher, dass auch der Bundespräsident ihr ein Ständchen vorträgt. "Schaut auf diesen Geburtstag, und schaut auch auf dieses Partei!", ruft Frank-Walter Steinmeier irgendwann. Dabei staunen hier nur ein paar Grüne über sich selbst.

Freitag im "Motorwerk", einer Berliner Produktionshalle, in der in einer anderen Erdzeit mal Elektromotoren zusammengeschraubt wurden. Jetzt haben die Grünen zur Geburtstagssause eingeladen. Vor 40 Jahren wurde die Partei in Karlsruhe gegründet, vor 30 Jahren schlossen sich ostdeutsche Bürgerrechtler und Oppositionelle zum Bündnis 90 zusammen. Ein Doppelgeburtstag ist das, der ins Geschichtsbuch führt. Keine deutsche Partei hat sich in den letzten Jahrzehnten so vielen Häutungen unterzogen wie die Grünen, und der Staat häutete sich mit, notgedrungen.

"Deutschland ist ohne Zweifel offener geworden und vielfältiger, menschlicher und moderner in diesen 40 Jahren", sagt der Bundespräsident bei der Geburtstagsfeier "Ökologie und Nachhaltigkeit sind zum Maßstab von Politik geworden - auch weit jenseits dieser Partei." Den Grünen gehe es heute um die "Veränderung der gesamten Gesellschaft", weg von der Zerstörung ihrer Grundlagen, "hin zu mehr Demokratie und Gleichberechtigung".

Was folgt, klingt so beseelt, als dächte Steinmeier gelegentlich auch darüber nach, woher die Stimmen für seine zweite Amtszeit kommen sollen. Die Vereinigung ostdeutscher Oppositioneller mit den westdeutschen Grünen sei ein "unschätzbarer Beitrag zur deutschen Einheit" gewesen, lobt der Bundespräsident. In schmerzhaften Beschlüssen habe die Partei zudem vorgemacht, wie wertvoll der Kompromiss für die Demokratie sei: "Wer Politik macht, nicht um recht zu haben, sondern um die Welt zu verändern, der muss - oft genug - die reine Lehre hinter sich lassen."

Die Grünen haben ihre Haltung zum Staat gewandelt

Wer wissen will, wie sehr die Welt über die Jahre auf die grüne Lehre abgefärbt hat, kann einen Blick ins grüne Gründungsprogramm von 1980 werfen. Sein Ton verrät, mit welcher Unbedingtheit dieser struppige Haufen aus Naturfreunden, K-Grupplern, Feministinnen und Querköpfen sich in die Parteipolitik warf. "Das kostbare Trinkwasser darf künftig nicht mehr zum Spülen von Toiletten oder Waschen von Autos vergeudet werden", heißt es darin zum Beispiel. Oder: "Der Bau neuer Autobahnen und Schnellstraßen wird eingestellt." Das Verwaltungspersonal sollte auf Landschaftsschutz umgeschult werden. Frauen sollten "in allen Berufen tätig sein können, für die sie sich interessieren, auch in ,Männerberufen'".

Manches, was da gefordert wurde, ist heute noch nicht erreicht, anderes haben die Grünen von der Agenda gestrichen, oft unter Qualen. Der stärkste Wandel: die Haltung zum Staat. "Die Politik der etablierten Parteien hat mit Berufsverboten, Bespitzelung und polizeilicher Überwachung ein Klima in unserem Lande geschaffen, das Duckmäusertum und Anpassung hervorruft", heißt es im grünen Programm von 1980. Die Ausübung demokratischer Rechte werde behindert, Protest gegen Umweltzerstörung und gegen "politische Unterdrückung" eingeschüchtert.

Gemeint waren teilweise martialische Polizeieinsätze gegen Demonstranten, die Deeskalationsstrategie war noch nicht erfunden. "In meinen Aktionsjahren hatte ich oft Angst vor dem Knast oder Schlimmerem, aber ich wollte wenigstens immer riskieren, die Wahrheit zu sagen", sagte die Grüne Urgestalt Eva Quistorp mal. Nicht wenige Grüne lebten in der Überzeugung, einen Unrechtsstaat zu bewohnen. Bei ihrer Gründung forderten sie "die sofortige Aufhebung aller Urteile gegen Atomkraftgegner und die Einstellung jeglicher Verfolgungsmaßnahmen".

Etwas anders klingt der Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms, an dem die Partei heute arbeitet. "Die Polizei, als sichtbarer Arm des staatlichen Gewaltmonopols, ist in ganz besonderer Weise Hüterin und Verteidigerin von Rechtsstaat und Demokratie", heißt es hier. "Eine unabhängige und gut ausgestattete Justiz, die in der Lage ist, exekutive, behördliche oder legislative Maßnahmen effektiv zu prüfen", trage ganz wesentlich zum "Vertrauen in den Rechtsstaat" bei.

Die Grünen sind erwachsen geworden, auch nach wüsten inneren Grabenkämpfen, die sie von manchem Absolutheitsanspruch kuriert haben. Doch was heute allseits als Kompromissbereitschaft gelobt wird, war für viele Kämpfer der ersten Stunde schlicht Verrat. Schon die Vorstellung, Partei zu werden, lehnten viele ab, auch Bürgerrechtler von Bündnis 90, die sich in ihrem ersten Wahlprogramm von 1990 irgendwo "außerhalb des importierten Parteiendreiecks" ansiedelten.

Zu regieren, Herrschaft auszuüben, mit Volksparteien wie der SPD, war vielen lange unvorstellbar. Es folgte: ein Glaubwürdigkeitsproblem. Als die Grünen 1983 in den Bundestag gewählt wurden, wetterte Petra Kelly, Feministin in Rüschenbluse: "Wenn es eine Gruppe gibt, die keine Herrschaft braucht in diesem Land, dann sind es die Frauen." Und als Zauselbart Lukas Beckmann es 1987 wagte, eine Kooperation mit der CDU auch nur anzudenken, war die Empörung so groß, dass er nicht mehr als Vorstandssprecher kandidierte.

Sie haben sich dann doch durchgesetzt, die Realos um Joschka Fischer, der 1999 das Ja der Grünen zum Nato-Einsatz in Kosovo erkämpfte - für die Partei ein so traumatischer wie identitätsstiftender Schritt, dem Massenaustritte folgten.

Kein Wunder, der Pazifismus gehörte zu den innersten Überzeugungen der Grünen. Im Gründungsprogramm hatten sie noch ultimativ gefordert, sofort mit der "Auflösung der Militärblöcke" zu beginnen, also Nato und Warschauer Pakt abzuschaffen. Fischer hielt dagegen, mit großer Kanone: "Auschwitz ist unvergleichbar", sagte er auf dem Bielefelder Parteitag 1999. "Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus." Auch dieser Tonfall ist schon wieder Geschichte. Die Nato sei ein "Wertebündnis, das für eine völkerrechtsbasierte Ordnung steht", heißt es gelassen heute bei den Grünen.

Neulich wurden die Parteichefs mal gefragt, was ihr grünes Schlüsselerlebnis sei. "Als Tschernobyl in die Luft geflogen ist", sagte Robert Habeck. Annalena Baerbock erzählte von 2004, als sie in Frankfurt an der Oder auf der Brücke nach Polen gestanden habe mit Joschka Fischer, um die EU-Osterweiterung zu feiern. Europa und so, das sei ihr "sehr wichtig". Bei den Grünen hat eine neue Zeit begonnen. Mal wieder.

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Quelle:
SZ vom 11.01.2020/mkoh
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