Süddeutsche Zeitung

Parteitag:Grüne in der Herzkammer

Achtung, Respekt, Sicherheit - der digitale Grünen-Parteitag kreiselt um Begriffe, die Verlässlichkeit signalisieren. Aber blumige Worte sind auf Dauer nicht genug.

Kommentar von Constanze von Bullion, Berlin

Gäbe es einen Orden für Tapferkeit, das Ertragen von Ödnis und erbarmungslose Abstimmerei - die Grünen hätten ihn verdient. Die Partei führt an diesem Wochenende vor, wie man einen Parteitag im Netz durchzieht, drei Tage lang. Das gab es so noch nie. Mehr als 800 Delegierte sind da zu besichtigen, die daheim vor Kuhporträt und Gummibaum ein neues Grundsatzprogramm beschließen. Ihre Parteivorsitzenden flanieren derweil aufgebrezelt wie Entertainer durch ein imaginäres Fernsehstudio. Um es abzukürzen: Es gab schon unterhaltsamere Parteitage. Auch die Grünen dürften das so sehen. Aber Ausdauer hat ja auch ihren Wert.

Ein Spaziergang wird nicht, was jetzt auf die Partei zukommt. So wie es aussieht, werden die Grünen für jedwede nächste Bundesregierung gebraucht. Ob Schwarz-grün, Grün-rot-rot, Jamaika oder Kenia, in jeder Konstellation wären sie nach Lage der Dinge dabei. Eine Partei, die nie und nimmer zum Establishment gehören wollte, hat sich in 40 Jahren die Herzkammer der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu eigen gemacht. Und sie füllt sie mit Werten, für die sie dereinst vor allem Verachtung übrig hatte.

Achtung, Respekt, Vorsorge, Sicherheit - das sind nur ein paar der Schlüsselbegriffe, um die der grüne Parteitag kreiselt. In Zeiten, in denen nur die Verunsicherung gewiss ist, heißt das grüne Versprechen plötzlich Verlässlichkeit. Manchmal merkt man den Baerbocks und Habecks an, dass sie noch fremdeln in dieser neuen Rolle.

Und manchmal wirkt ihr Versuch ein bisschen verkrampft, die Forderung nach öko-sozialem Wandel umzudeuten zu einer Art Lebensversicherung. So nach dem Motto: Wer rechtzeitig auf den grünen Kurs einschwenkt, dem bleiben künftige Klimakatastrophen erspart. Für die politische Konkurrenz jedenfalls wird es schwer, an der neuen grünen Zuversicht vorbeizukommen.

Immer deutlicher zeichnet sich aber auch ab, worauf sich die Grünenspitze hinter den Kulissen gefasst macht. Annalena Baerbock spricht jetzt immer öfter über Außenpolitik und die Frage, wie Europa Souveränität erlangen kann, auch militärisch. Da kündigen sich unerfreuliche Debatten an, auch über den deutschen Verteidigungsetat.

Robert Habeck, gelernter Philosoph, beschäftigt sich neuerdings auffällig viel mit Finanzen und der Frage, woher eigentlich die Milliarden kommen sollen, die die Grünen für ihre gewünschte Investitionsoffensive brauchen. Einfach nur die staatliche Gelddusche aufdrehen, wird jedenfalls nicht reichen, damit das grüne Eldorado erblüht. Zeit also, Tacheles zu reden: über mögliche Steuererhöhungen und Vermögensabgaben. Themen, die Habeck auf dem Parteitag nur gestreift hat.

Auch schwarz-grüne Minenfelder wie die Migration und Asyl dürften bald wieder wieder mehr Beachtung bekommen, als das auf dem Parteitag der Fall war. Da drücken die Grünen sich bisher um unbequeme Debatten. Blumige Worte sind auch nicht genug, wenn es um Diversität geht. Das neue Vielfaltstatut der Grünen klingt gut, aber es bleibt ein leeres Versprechen, wenn es der Partei nicht gelingt, wieder eine Persönlichkeit mit Migrationsbiografie in die erste Reihe zu befördern. Viel zu tun gibt es jetzt schon. Es dürfte bald noch mehr werden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5122905
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/kler
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.