Massaker von Babi Jar 1941:Morden im Schichtbetrieb

Massaker von Babi Jar 1941: Aus dem Archiv: Zwei Momentaufnahmen aus dem 2. Weltkrieg in Babij Jar

Aus dem Archiv: Zwei Momentaufnahmen aus dem 2. Weltkrieg in Babij Jar

(Foto: AP)

1941 ermorden Wehrmacht und SS in einer Schlucht bei Kiew Tausende Juden. Nach 36 Stunden ist es vorbei - 33 771 tote Menschen liegen in Babij Jar.

Von Cathrin Kahlweit, Kiew

"Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras. Streng, so sieht dich der Baum an, mit Richter-Augen. Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde grau. Und bin - bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme über tausend und aber tausend Begrabene hin."

Aus "Babij Jar", Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko, übersetzt von Paul Celan.

Wlad wartet Tag um Tag, Stunde um Stunde vor dem Blumenladen an der Metro-Station Dorohoschitschy, links der Ausgang, rechts der Eingang, in der Mitte Zinnien, Dahlien, Phlox - und Wlad. Hier muss jeder vorbei, der den Ort besuchen will, an dem vor 75 Jahren mehr als 33 000 Kiewer Juden erschossen wurden. Babyn Yar nennen ihn die Ukrainer, Altweiberschlucht; als Babij Jar ist er in die deutsche Geschichtsschreibung eingegangen: als Schauplatz des größten Massakers von SS und Wehrmacht an Juden im Zweiten Weltkrieg.

Während Auschwitz symbolisch für den fabrikmäßigen Massenmord an Juden durch den Gaseinsatz stehe, schreibt der Freiburger Historiker Wolfgang Wette, sei Babij Jar "Symbol der Massenexekutionen im Ostfeldzug". Auschwitz gilt weltweit als Synonym für den Holocaust. Den Ort jedoch, an dem die Deutschen in gerade einmal anderthalb Tagen fast alle Juden exekutierten, die zu diesem Zeitpunkt noch in Kiew lebten, den kennen nicht einmal alle Ukrainer.

Wlad sitzt im Rollstuhl; es ist kein modernes Gerät mit Motor und Kopfstütze, für so etwas ist im ukrainischen Gesundheitswesen kein Geld da. Er hockt in einem wackeligen Faltstuhl auf Rädern, mit dem er die Rampen, die aus der Unterführung ans Licht führen, nur mit Mühe hinaufrollen kann. Autounfall, Beine ab.

Nun bietet er seine Dienste an beim Besuch des Parks, den "Gedenkstätte" zu nennen eine maßlose Übertreibung wäre. Er erkennt seine Kunden sofort, sie treten anders aus der Metro ans Tageslicht als die Anwohner aus der Nachbarschaft: suchend, zaudernd.

Wlad raunt, obwohl er kein Deutsch kann, verschwörerisch ein paar einschlägige Namen: "SS-Standartenführer Blobel", Befehlshaber des Sonderkommandos 4a. Oder "Generalfeldmarschall von Reichenau", 6. Armee. Meist bleiben die Besucher stehen, neugierig geworden, und fragen ratlos, wohin sie sich wenden sollen in diesem gesichtslosen Betondschungel aus Kiosken, Rampen und Treppen, und dann wollen sie Wlad ein paar Hrywna aufdrängen. Aber er nimmt kein Geld. "Es ist ja auch unsere Geschichte", sagt er.

Allerdings ist es selbst mit Hilfe des menschlichen Wegweisers in seinem Klapprollstuhl schwer zu erkennen, was an diesem Ort geschah, der 1941 noch außerhalb des Kiewer Stadtgebiets lag: Damals war hier wenig mehr als Wald auf sandigem Boden, dazwischen eine nierenförmige Schlucht von 2,5 Kilometern Länge und 30 Metern Tiefe, Wände aus Kalkstein, in der Nähe alte Friedhöfe, Juden und Christen lagen hier begraben.

Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen explodierten Häuser

Das war vor dem 29. September 1941. Das 26. Armeekorps, Teil der 6. Armee, hatte Kiew, die Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik, zuvor überrannt und den Kommandeur der Feldkommandantur 195, Generalmajor Kurt Eberhard, zum Stadtkommandanten ernannt. Von den etwa 220 000 Juden, die in Kiew gelebt hatten, war ein Großteil geflohen, Berichte über Massenerschießungen durch SS und Wehrmacht auf ihrem Weg nach Osten, unter anderem kurz zuvor in Bjelaja Zerkow, waren auch in die Zentralukraine durchgesickert. In der Stadt befanden sich etwa 50 000 Juden: Frauen, Kinder, Alte.

Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen explodierten im Zentrum mehrere Häuser, die von der Roten Armee vor ihrem Rückzug vermint worden waren, Wehrmachtsangehörige und Zivilisten kamen ums Leben. Daraufhin trafen im Zarenschlösschen über dem Dnjepr (es wird erst jetzt, 75 Jahre später, wieder komplett restauriert), Vertreter von SS und Wehrmacht zusammen und beschlossen die Ermordung aller verbliebenen Juden; die Aktion solle als "Vergeltung" für die Bombenanschläge ausgegeben werden.

Blobel für die SS und Reichenau für die Wehrmacht verstanden sich blendend. Nach Berlin meldete die SS einen Tag vor Beginn der Operation: "Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen." Den Bluttag selbst kann man in einem bescheidenen Schaukasten im "Museum für den Großen Vaterländischen Krieg" in Kiew nachverfolgen, das sich, anders als andere Einrichtungen aus der Sowjetära, wohltuend unideologisch mit der Leidensgeschichte der Völker der UdSSR auseinandersetzt.

In jenem Saal, der dem Holocaust gewidmet ist, hängt der Aufruf im Original, in dem die jüdische Bevölkerung aufgefordert wurde, sich "am 29. September 1941 um 8 Uhr an der Ecke Mjelnikowskaja und Dochturowskaja-Straße (neben den Friedhöfen)" mit ihren Wertgegenständen zur Umsiedlung an Sammelpunkten einzufinden; Strafe für Nicht-Erscheinen: sofortige Erschießung.

Morden im Schichtbetrieb

Statt der erwarteten 6000 kamen mehr als 30 000 Menschen. In einem endlosen Zug marschierten die Elenden bis an den Stadtrand, wo rund um die Schlucht von Babij Jar Stacheldraht aufgestellt worden war; durch enge Tore und Spaliere von prügelnden Soldaten ging es zu Registriertischen, dann mussten die Menschen sich ausziehen und in kleinen Gruppen nackt an den Rand der Schlucht treten. Die ersten wurden erschossen, nachdem sie sich mit dem Gesicht nach unten auf die Erde gelegt hatten, die Nachfolgenden zwang man, sich auf die Leichen zu legen.

Später sprengten Soldaten die Wände der Schlucht ab, sodass Steine die Leichenberge teilweise bedeckten. Um Schreie und Schüsse zu überdecken, hallte laute Opernmusik über den Platz. Die Morde erfolgten im Schichtbetrieb. Nach 36 Stunden war alles vorbei. Die Aktion sei aufgrund der "überaus geschickten Organisation" ohne Schwierigkeiten abgewickelt worden, befand das zuständige Sonderkommando; sie sei sogar "reibungslos" verlaufen, wurde erfreut nach Berlin gemeldet.

33 771 tote Juden lagen am Ende dieser Aktion laut offizieller Zählung in Babij Jar - gelistet und ermordet vom Sonderkommando 4a der SS-Einsatzgruppe C, unter Beteiligung von - unter anderem - Kommandos des Polizeiregiments Russland-Süd, des Bataillons der Waffen-SS z.b.V. und des Polizei-Reservebataillons 9, Angehörigen der Geheimen Feldpolizei, von Wehrmachtssoldaten und Einheimischen innerhalb von 36 Stunden am 29. und 30. September 1941.

Und es sollten noch weit mehr Tote werden. In den Folgejahren kamen Tausende ermordete Roma hinzu, ukrainische Partisanen und Nationalisten, Kriegsgefangene, Kommunisten. 50 000 (manche Schätzungen sagen, bis zu 90 000) Menschen sollen während der deutschen Besatzung am Kiewer Stadtrand verscharrt worden sein.

Gedenkstätte Babi Jar in Kiew

Lange wurden die NS-Verbrechen von Babij Jar unter Verschluss gehalten. Erst seit 1976 gibt es in Kiew eine Gedenkstätte. Dennoch: Zu einem würdevollen Gedenken für die Gräuel von Babij Jar ist es noch ein weiter Weg.

(Foto: dpa)

Mordtaten mit "deutscher Effizienz und außergewöhnlicher Grausamkeit"

In dem Band "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944", der aus der namensgleichen Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung hervorgegangen ist, wird das Massaker von Kiew als Wendepunkt bezeichnet, von dem an die Kooperation von SS-Kommandos und 6. Armee im Osten gemäß einem "Muster" verlaufen sei: Orts- und Stadtkommandanten besprachen sich mit dem SD-Einsatzkommando, von Propaganda-Kompanien produzierte Aufrufe beorderten die jüdische Bevölkerung zu Sammelpunkten, SS- und Polizei "eskortierten sie dann zu Mordstätten außerhalb der Städte, wo sie von Angehörigen des Sonderkommandos 4a oder der Waffen-SS erschossen wurden".

Erst 1943, nach der Schlacht um Stalingrad, drehte sich der Wind, Beweise für die Morde an Millionen sollten nun beseitigt werden. Die NS-Besatzer befahlen eine Gruppe von Zwangsarbeitern aus einem nahegelegenen Konzentrationslager nach Babij Jar, sie mussten die Leichen ausgraben, "enterden", auf benzingetränkten Eisenbahnschwellen verbrennen.

Keiner der beteiligten Offiziere wurde je juristisch belangt

Die Mordtaten, der "Holocaust durch Gewehrkugeln", so ein in der Ukraine verbreitetes Diktum, waren mit deutscher Effizienz und außergewöhnlicher Grausamkeit angeordnet und durchgeführt worden, die Taten blieben indes weitgehend ungesühnt: SS-Mann Blobel, Chef des Sonderkommandos 4a, wurde in Nürnberg verurteilt und später gehenkt. Aber keiner der beteiligten Wehrmachtsoffiziere wurde je juristisch belangt.

Auch in der UdSSR tat man sich mit der Aufarbeitung schwer: Nach dem Sieg der Sowjetarmee und angesichts eines unter Stalin grassierenden Antisemitismus, der das Gedenken an die jüdischen Opfer nicht zuließ, begann die kommunistische Stadtführung das, was von der Schlucht übrig war, mit Industrieabfällen und Produktionsresten aus einer Ziegelfabrik zu füllen und Straßen darüber zu bauen.

Die Erinnerung wurde zugeschüttet, eingeebnet, nivelliert. Das rächte sich: Anfang der 60er brach ein Erddamm, der über das Gelände führte, 30 Hektar Land wurden überflutet, in den Fluten: Leichenreste, Knochen. Bis zu 2000 Bewohner der angrenzenden Wohngebiete sollen durch die Schlammlawine 1961 umgekommen sein.

Während des Krieges, 1944, hatte der in Kiew geborene Dichter und Kriegsreporter Ilja Ehrenburg noch in einem Poem an die Toten von Babij Jar erinnert, aber sie gerieten schnell in Vergessenheit. Es war daher eine Sensation und eine Provokation, als der russische Dichter Jewgenij Jewtuschenko nach Stalins Tod das beredte Schweigen über Babij Jar brach. 1961 dichtete er voller Wut und Trauer: "Da steht kein Denkmal. Ein schroffer Hang - der eine unbehaune Grabstein. Mir ist angst."

Die Angst blieb. Erst nach der ukrainischen Unabhängigkeit endete das verordnete Vergessen. Zum 70. Jahrestag holte der ukrainische Oligarch Viktor Pintschuk, selbst Jude, die Ausstellung "Shoah by Bullets: Massenerschießungen von Juden in der Ukraine 1941 bis 1944" nach Kiew, die unter anderem auf der Arbeit des französischen Priesters Patrick Desbois und seiner Organisation "Yahad-In Unum" basierte.

Mehr als 1,5 Millionen Juden lebten einst in der Ukraine

Dafür hatten katholische und jüdische Rechercheure gemeinsam nach unentdeckten Massengräbern von Juden gesucht und Zeitzeugen befragt. Mehr als 1,5 Millionen Juden lebten einst in der Ukraine; 1500 Hinrichtungsstätten vermutet Desbois noch immer in den "Bloodlands" (Timothy Snyder), an Stadträndern und Wäldern, deren Opfer bis heute nicht gefunden, nicht begraben sind.

75 Jahre sind vergangen. Wo einst Zehntausende in den Tod gingen, erstreckt sich heute eine ungepflegte Fläche Gras unter durstigen Bäumen. Sie erzählt wenig von jenen, die hier ermordet, eingegraben, verbrannt wurden. Dafür viel darüber, dass es noch immer nicht gelungen ist, gemeinsam zu gedenken und gemeinsam zu trauern. Knapp 30 Mahnmale sollen es hier geben, alles in allem.

Wlad in seinem Rollstuhl weist mit seinen schwieligen Händen nach links, zum Kinderdenkmal, dann nach rechts, zum jüdischen Denkmal, hier ein Denkmal für ukrainische Nationalisten, dort ein Denkmal für die "Opfer der Stadt und die Gefangenen des Krieges". Er weist in die Ferne: Jenseits der viel befahrenen Straßen, in den Wohngebieten, finden sich ein Denkmal für die Opfer von Erschießungen 1943, eine Gedenkstätte für die KZ-Insassen, eine Tafel mit dem Text der Aufforderung vom 28. September 1941, sich an den Sammelstellen einzufinden. Es ist ein Kampf der Erinnerungen an einem Ort, an dem Ideologie und Trennendes über die Trauer gesiegt haben.

Nun, da der 75. Jahrestag des Massakers von Babij Jar ansteht und eine neue Schicht von kritischen Historikern und Aktivisten in der Folge des Euromaidan in Kiew an Einfluss gewonnen hat, gibt es einen neuen Anlauf für ein gemeinsames Gedenken. Ein Wettbewerb für eine "Nekropolis" wurde von einer ukrainisch-jüdischen Stiftung ausgeschrieben - und damit für einen "holistischen Ansatz", der den Dialog der Kulturen und Religionen befördern soll. Zwei zweite Preise wurden ausgelobt, der große, einigende Wurf war nicht dabei.

Zum Jahrestag soll es ein Jugendforum geben, ein Symposium, eine Präsentation der Ergebnisse des Nekropolis-Wettbewerbs und ein Konzert. Immerhin.

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