Boris Johnson ist wieder aufgetaucht, und wie so oft war er gleich für ein paar Überraschungen gut. Nach dem Votum der Briten gegen die EU-Mitgliedschaft trat der ehemalige Londoner Bürgermeister lediglich am Freitag kurz auf, übers Wochenende zog er sich ins Private zurück und schwieg. Am Montag aber zeigte er sich vor seinem Wohnhaus im Londoner Norden und sagte, im Wesentlichen werde alles so bleiben wie zuvor, niemand müsse sich Sorgen machen. Das war einerseits erstaunlich, weil Johnson sich an die Spitze der EU-Gegner gesetzt und für einen britischen "Unabhängigkeitstag" gekämpft hatte. Es war dann auch wieder nicht so erstaunlich, weil Johnson der EU im Grundsatz wohlgesonnen ist. Dass er gegen sie Stimmung machte, hatte mit seinen persönlichen Ambitionen zu tun, nicht mit der Institution.
Langjährige Wegbegleiter Johnsons sind der Ansicht, dass ihm das Ergebnis des Volksentscheids gar nicht so gut in den Kram passt. Sein Kalkül war demnach, dass die EU-Gegner knapp verlieren, er als Chef von deren Kampagne aber seine Glaubwürdigkeit bei den Europaskeptikern der Konservativen Partei erhöht. Da Premierminister David Cameron ohnehin nicht für eine dritte Legislaturperiode antreten wollte, wäre der Posten des Parteivorsitzenden in absehbarer Zeit, 2018 oder 2019, vakant geworden, und Johnson weiß: Das Wahlverfahren bei den Tories ist so angelegt, dass es EU-skeptische Politiker bevorzugt.
Zunächst stellen die Abgeordneten zwei Kandidaten auf. Anschließend entscheidet die Basis, wer den Vorsitz übernimmt. Johnson hätte sich recht sicher sein können, zur Belohnung für seine Mühen beim Referendum von den EU-Skeptikern als einer von zwei Kandidaten aufgestellt zu werden. Die Wahl an der Basis hätte er dann wahrscheinlich deutlich gewonnen, da diese der EU noch weit skeptischer gegenübersteht als die Fraktion in Westminster.
Diese Lösung hätte den Vorteil gehabt, dass Großbritannien in der EU geblieben wäre, was in Johnsons Interesse ist, und dass er nicht als Königsmörder dagestanden hätte. Viele der europafreundlichen Tories sind derzeit nicht gut auf ihn zu sprechen, weil sie der Ansicht sind, Johnson habe die EU-Debatte für seine persönlichen Anliegen missbraucht und damit die gesamte Partei und womöglich das ganze Land in eine Krise geführt. Sie verspüren wenig Lust darauf, ihn nun mit dem Parteivorsitz zu belohnen.
Normalerweise finden Wahlen zum Vorsitz statt, wenn die Partei gerade eine Wahl verloren hat oder der jeweilige Chef sich als zu schwach erweist. Cameron aber hatte die Tories erst vor einem Jahr zu ihrer ersten absoluten Mehrheit seit 23 Jahren geführt, er war ein strahlender Sieger. Selbst bei einer äußerst knappen Mehrheit für den Verbleib in der EU hätte er wohl im Amt bleiben können und ein Kabinett der Versöhnung gebildet, in dem auch Johnson eine prominente Rolle gespielt hätte. Nach dem Ergebnis vom vergangenen Freitag musste Cameron jedoch die Konsequenzen ziehen und zurücktreten.
Großer Widerspruch
Johnson ist der Favorit auf die Nachfolge, doch er wandelt auf einem schmalen Grat. Am Montag versuchte er, den wütenden, europafreundlichen Teil der Partei zu befrieden, indem er sagte, Großbritannien werde Europa immer eng verbunden bleiben. Damit riskiert er allerdings, den rechten Rand der Partei und die europaskeptische Basis zu verärgern. Johnson ist ein großer Bewunderer von Winston Churchill und besonders von dessen Eigenschaft, mal diese und mal jene Meinung zu vertreten. Er hält Opportunismus nicht für einen Makel, sondern für eine politische Kernkompetenz. Der Johnson, der sich an diesem Montag zeigte, hatte mit dem Johnson der vergangenen Wochen wenig zu tun.
Hatte er die EU zuletzt als undemokratisches Monster geschildert, war er nun voll des Lobes. In seiner wöchentlichen Kolumne im Daily Telegraph schrieb er: "Ich kann nicht genug betonen, dass Großbritannien ein Teil von Europa ist und dass das immer so bleiben wird." Es gebe intensive Zusammenarbeit in den Künsten, den Wissenschaften, in der Bildung und beim Umweltschutz. "Die Rechte von EU-Bürgern in diesem Land werden unangetastet bleiben, und gleiches gilt für britische Bürger, die in der EU leben", sagte er. Selbstverständlich wolle man auch Teil des Binnenmarktes bleiben. Das allerdings würde bedeuten, dass Großbritannien die Freizügigkeit in der EU anerkennen müsste, und der Wahlkampf der Gegner hatte sich sehr auf das Thema Immigration konzentriert. Dieser Widerspruch focht Johnson nicht an.
Die "einzige Änderung" bei einem Austritt sei, dass Großbritannien sich der "außergewöhnlichen und undurchsichtigen Gesetzgebung" aus Brüssel entziehe. Das bedeute, dass man die "demokratische Kontrolle" über die Einwanderung zurückgewinne. Diesbezüglich bestehe aber keine Eile. Zudem könne man das Geld, das man eines Tages nicht mehr nach Brüssel schicke, zum Beispiel für den Nationalen Gesundheitsdienst verwenden. Was Johnson da entwarf, war die Vision eines Vereinigten Königreichs, das de facto in der EU bleibt, aber keine Beiträge mehr zahlt und seine Grenzen zumacht.
Das mag mit der Realität nicht viel zu tun haben, könnte aber andeuten, was Johnson plant. Bis zu diesem Donnerstag werden die Kandidaten für die Nachfolge Camerons nominiert. Ein neuer Chef oder eine neue Chefin soll Anfang September gewählt werden. Als aussichtsreichste Konkurrentin von Johnson gilt Innenministerin Theresa May. Die zählte zwar offiziell zu den EU-Befürwortern, doch hat sie diese Entscheidung aus Loyalität zu Cameron getroffen. Sie gilt als europaskeptisch.
Sollte Johnson sich durchsetzen, läge es an ihm, in Brüssel mit Verweis auf Artikel 50 des EU-Vertrags die britische Austritts-Absicht mitzuteilen. Nun hat er aber bereits gesagt, dass es "keine Eile" gebe, weshalb man sich in Westminster fragt, ob er die Absicht hat, diese Mitteilung überhaupt je zu machen. Das Referendum ist rechtlich nicht bindend. Es ist zwar politisch kaum vorstellbar, das Ergebnis der Abstimmung zu ignorieren, doch Johnson könnte auf Zeit spielen.
Dabei könnte er darauf verweisen, dass er sich zunächst der Zustimmung des Parlaments versichern wolle. Die Regierung müsste nicht um diese Zustimmung bitten, es ist bei Fragen von enormer Tragweite jedoch üblich. Deshalb hat David Cameron zum Beispiel über Luftangriffe in Syrien abstimmen lassen. Das Parlament ist mehrheitlich gegen den Brexit, was zu weiteren Problemen und Verzögerungen führen könnte.
Johnson könnte auch Neuwahlen anberaumen, damit die neue Regierung ein starkes Mandat für den Brexit hätte. Dazu müssten zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen, oder er müsste seine Regierung per Misstrauensvotum stürzen und zwei Wochen warten, in denen es anderen Kandidaten erlaubt wäre zu versuchen, eine Regierung zu formen. Es sieht zwar derzeit nicht so aus, aber natürlich könnten Neuwahlen auch von der europafreundlichen Labour-Partei gewonnen werden, die ein solches Ergebnis als Revision des Referendums lesen könnte. So oder so sieht es nicht danach aus, dass die Briten die Austrittsverhandlungen sonderlich schnell beginnen werden, trotz des Drucks aus Brüssel.
Ursprünglich hatte Cameron gesagt, er werde Brüssel im Fall des Falles am Morgen nach der Abstimmung benachrichtigen. Dass er diese Aufgabe seinem Nachfolger übertragen hat, macht den Prozess unübersichtlich und lässt Raum für Spekulationen. Johnson hat schon vor einigen Monaten die Idee eines zweiten Referendums ins Gespräch gebracht. Falls eine Mehrheit der Briten tatsächlich für den Austritt stimme, so sagte er, könne man ja gegebenenfalls nachverhandeln und erneut abstimmen. Derzeit spricht er darüber nicht, um die EU-Skeptiker vor der Wahl zum Parteichef nicht zu vergrätzen. Aber es deutet einiges darauf hin, dass er diesen Gedanken nicht verworfen hat.