Die EU und Nordafrika:Kleinlicher Geiz, strategische Blindheit

Beispiel Tunesien: Die EU verkennt das politische Problem, das sich südlich des Mittelmeers abzeichnet. Europa muss endlich Ernst machen mit der Partnerschaft mit Nordafrika.

Joschka Fischer

Für die meisten Europäer liegen rund um das Mittelmeer die alljährlichen Ziele ihrer Sehnsucht. Sie verbringen dort ihre schönsten Wochen im Urlaub. Doch dieser optimistische Blick auf die Länder des Mittelmeerraums ist, bedingt durch die Finanzkrise, einem tiefen Pessimismus gewichen.

Aftermath of the formation of interim government in Tunisia

Die Graffiti hinter diesem Demonstranten in Tunis ist Ausdruck der Hoffnung vieler seiner Landsleute: "Lang lebe das freie Tunesien!" Die EU muss nun die so oft beschworene Mittelmeerpartnerschaft mit Leben füllen und beim Aufbau von Demokratie und Wirtschaft helfen.

(Foto: dpa)

Innerhalb der EU macht das hässliche Wort von den PIGS (Portugal, Italien/Irland, Griechenland, Spanien) die Runde, welche durch ihre unsolide Wirtschafts- und Finanzpolitik die Stabilität des Euro gefährdeten und die Nordeuropäer zu teuren Bail-outs zwingen. Wo noch vor kurzem Sonne und Solidarität angesagt war, breiten sich heute Depression und Konfrontation aus. Schlimmer noch, durch die europäische Schulden- und Vertrauenskrise befindet sich die EU in der schwersten Krise seit ihrer Gründung. Es geht um nichts Geringeres als um die Zukunft des europäischen Projekts schlechthin.

Nun hat mit der Revolution in Tunesien die Krise auch das südliche Ufer des Mittelmeerbeckens erreicht, während im Osten der Libanon erneut am Rande einer kriegerischen Katastrophe zu stehen scheint. Die mediterranen Mitgliedsstaaten der EU wanken, und zeitgleich kündigen sich in ihrer südlichen Nachbarschaft große Veränderungen an. Es wäre jetzt eigentlich an der Zeit, dass man in Brüssel und in den wichtigsten europäischen Hauptstädten endlich auch einen geopolitischen und nicht nur fiskalischen Blick auf den Mittelmeerraum werfen würde. Die EU hat im Mittelmeerraum nicht vor allem ein Währungs-, sondern vor allem ein strategisches Problem, auf das sie schnell Antworten finden muss.

Der Sturz des Präsidenten Ben Ali in Tunesien durch einen demokratischen Aufstand der Straße kam von innen heraus und ist ein Novum in der arabischen Welt. Es zeigte sich, dass in den Zeiten eines grenzüberschreitenden Fernsehens und des Internets die nationale Unterdrückung der freien Information und Meinungsäußerung nicht mehr wirklich funktioniert. Hinzu kam, dass die zu Militärdiktaturen erstarrten nationalistischen Regimes in der arabischen Welt schon seit längerer Zeit ihre Legitimation in den Bevölkerungen verloren haben.

Eine chinesische Option, nämlich wirtschaftlich und sozial zu liefern, um politisch mit autoritären Mitteln die Macht festzuhalten, kann angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Unfähigkeit dieser Regimes und einer grassierenden Korruption nicht funktionieren.

Zudem nimmt mit dem schnellen Bevölkerungswachstum in sehr jungen Bevölkerungen und der Reformunfähigkeit der Regimes der Druck in Richtung einer explosiven Veränderung beständig zu. Dies gilt auch für die Monarchien im Nahen Osten und im Maghreb. Ob es in der arabischen Welt zu einer ähnlichen Entwicklung wie in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kommt, lässt sich nicht prognostizieren. In Osteuropa war mit dem Rückzug und schließlich dem Verschwinden der imperialen Macht der Sowjetunion der Damm generell gebrochen, und die Veränderung brach sich in Gestalt einer historischen Sturzflut ihre Bahn.

Im Nahen Osten und im Maghreb fehlt dieser externe Faktor, die demokratischen Veränderungen müssen in den jeweiligen Gesellschaften von innen kommen. Freilich zeigt Tunesien, dass keine Macht, die ihre Legitimation verloren hat und sich nur noch auf ihre Bajonette stützt, von Dauer sein kann. Die nächsten Kandidaten für eine große Veränderung sind in der Region bereits heute absehbar.

Nicht kleckern, sondern klotzen

Ob Tunesien zu einer demokratischen und wirtschaftlich-sozialen Erfolgsgeschichte werden oder in Chaos, Bürgerkrieg und einer erneuten autoritären Herrschaft enden wird, ist für die gesamte Region allerdings von entscheidender Bedeutung. Und auch Europa als nördlicher Nachbar wird davon direkt betroffen sein und sollte sich deshalb mit Hilfe zur Demokratisierung und zum wirtschaftlichen Fortschritt nachhaltig engagieren. Welche Fehler Europa im Umgang mit den autoritären Regimes in dieser Region auch immer gemacht hat, jetzt kann es diese durch entschlossene Hilfe korrigieren.

Joschka Fischer

Joschka Fischer (Grüne), geboren 1948, war 1998 bis 2005 Bundesaußenminister.

(Foto: dpa)

In Tunis wird es nun Ernst mit der so oft beschworenen Mittelmeerpartnerschaft, die bisher nur eine leere Hülle war, denn die Konsequenzen eines Erfolgs oder Misserfolgs des demokratischen Aufbruchs Tunesiens sind für die Interessen der EU kaum zu überschätzen. Brüssel und die wichtigsten Hauptstädte der Europäischen Union sollten bei der institutionellen Hilfe beim Aufbau der Demokratie wie auch bei der wirtschaftlichen Hilfe deshalb jetzt nicht kleckern, sondern klotzen, denn es geht um eine einmalige historische Chance.

Aber auch jenseits der direkten Hilfe für Tunesien sollte die EU jetzt ihre Mittelmeerpartnerschaft mit Leben erfüllen. Dazu böten sich vor allem Projekte der strategischen Energiekooperation an, wie sie bisher von der Privatwirtschaft entwickelt wurden: die Produktion von Sonnen- und Windstrom in der Sahara und die dazu notwendigen Verbindungen mit Europa. Die EU und ihre Mitgliedstaaten, vor allem Spanien, Frankreich, Deutschland und Italien, sollten diese neue Form der Energieerzeugung und -zusammenarbeit jetzt zum zentralen Projekt der Mittelmeerpartnerschaft machen.

Darüber hinaus würde ein solches Partnerschaftsprojekt die Kooperation zwischen den Staaten in der südlichen Nachbarschaft fördern und neue Impulse für Investitionen in Bildung, Infrastruktur und andere Industriebereiche geben. Damit würde aber das Wichtigste geschaffen, was diese Staaten mit ihren schnell wachsenden jungen Bevölkerungen brauchen, um Stabilität im Rahmen einer demokratischen Entwicklung zu produzieren, nämlich eine wirtschaftliche und soziale Erfolgsperspektive.

Wenn die Europäer sich auch weiterhin vor allem mit sich selbst beschäftigen und die Diskussion von Buchhaltern führen, dann werden sie eine große Chance versäumen. Denn im Mittelmeerraum kündigen sich Entscheidungen an, die direkt Europas Sicherheit berühren werden. Lassen sich die Europäer heute von Geiz und strategischer Blindheit leiten, dann werden ihre Rechnungen von morgen sehr viel teurer und vor allem gefährlicher werden.

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