Die Entscheidung im EU-Parlament:Straßburger Finale

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Geschafft: Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini (rechts) gratuliert Ursula von der Leyen kurz nach der Wahl. (Foto: Frederick Florin/AFP)

Das Ergebnis ist knapper als viele erwartet hatten. Nur mit Mühe bekommt Ursula von der Leyen die nötige Mehrheit zusammen. Dabei hatte sie mit einigen Zusagen geworben.

Von Karoline Meta Beisel und Matthias Kolb

Der Mann, der das Ergebnis ausplaudert, weiß genau, was auf Ursula von der Leyen jetzt zukommt. Der Portugiese José Manuel Barroso stand von 2004 bis 2014 an der Spitze der EU-Kommission und gratuliert um 19.21 Uhr per Twitter seiner Nachnachfolgerin zu ihrer Bestätigung durch das Europäische Parlament. Erst zehn Minuten später macht Parlamentspräsident David Sassoli in Straßburg die Zahlen offiziell, die auf den Gängen und online schon kursieren. 383 Stimmen erhält die CDU-Politikerin, gerade mal neun Stimmen mehr als nötig.

Die Erleichterung der Kandidatin mindert das nicht. Von der Leyen legt die Hand aufs Herz und sagt: "Es ist eine große Verantwortung, und meine Arbeit beginnt jetzt." Das Ergebnis ist knapp, viel knapper als zuletzt erwartet. Zum Vergleich: 2014 hatte Jean-Claude Juncker, ihr direkter Vorgänger, 422 Stimmen erhalten. Gut möglich, dass sich am Ende sogar Mitglieder der eigenen Parteienfamilie von ihr abgewendet haben. Und so ist die erste Gratulantin, die von der Leyen um den Hals fällt, dann auch keine Christdemokratin, sondern die Sozialdemokratin Federica Mogherini. Kaum jemand in Brüssel kennt von der Leyen so gut wie die EU-Außenbeauftragte, mit der die bisherige deutsche Verteidigungsministerin seit Jahren zusammenarbeitet. Die Brüsseler Außen- und Sicherheitspolitik ist von der Leyen bereits vertraut, das Europaparlament ist ihr noch fremd - auch das zeigt das Wahlergebnis.

Aber wie sagt es Ursula von der Leyen bei der Pressekonferenz nach ihrer Wahl? Mehrheit ist Mehrheit. Auf dem Namensschild vor ihr steht da schon ihr neuer Titel: "President-Elect of the European Commission". Sie atmet tief aus, und sagt: "Das waren die intensivsten zwei Wochen meines Lebens." Vor genau zwei Wochen hatte der Rat der Staats- und Regierungschefs sie nach einem langen Sondergipfel aus dem Hut gezaubert, weil bis dahin keiner der Spitzenkandidaten im Rat eine Mehrheit gefunden hatte - und auch das Parlament sich nicht schnell genug auf einen gemeinsamen Kandidaten hatte einigen können. Weder auf den Christdemokraten Weber, noch auf den niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans oder die liberale Dänin Margrethe Vestager.

Bei den Abgeordneten war es nicht gut angekommen, dass ihnen nun eine Kandidatin vorgesetzt wurde, die bei der EU-Wahl gar nicht angetreten war. Dass von der Leyen viele Stimmen fehlten, dürfte auch mit dieser Ausgangslage zu tun haben. Für die Zukunft habe sie sich vorgenommen, eng mit den politischen Gruppen im Parlament zusammenzuarbeiten. Ihre Erfahrung sei: "Je kürzer der Draht, umso besser gelingt die Arbeit dann auch bei schwierigen Themen." An von der Leyens altem Arbeitsplatz, dem Bundesverteidigungsministerium, würde man wohl eher sagen: Je kürzer der Draht, umso eher knallt's. Von der Leyen aber ist zuversichtlich, dass sie in den kommenden Wochen zumindest einige Kritiker im Parlament umstimmen kann. Mit dem Vortrag am Morgen habe sie nur die Grundlinien vorgegeben. Diesen Rahmen wolle sie jetzt weiter ausarbeiten.

30 Minuten lang hatte sie dem Parlament ihre "Leitlinien" für die Zukunft Europas vorgestellt. Das Programm, mit dem sie um die Abgeordneten werben wollte, um Junckers Nachfolgerin zu werden, dessen Amtszeit am 31. Oktober offiziell endet. Zu Beginn erinnert die CDU-Politikerin - auf Französisch - an die Französin Simone Veil, die vor knapp 40 Jahren als erste Frau zur Präsidentin des EU-Parlaments gewählt wurde. Sie freue sich, dass nun endlich auch eine Frau Kandidatin für den Job der EU-Kommissionspräsidentin sei. Dann schwärmt sie auf Deutsch davon, dass heute 500 Millionen Europäer in Wohlstand und Freiheit leben würden. Aber Digitalisierung, Überalterung und vor allem der Klimawandel bereiteten vielen Bürgern Sorgen. Europa müsse auf diese Sorgen mit Geschlossenheit antworten: "Wenn wir im Inneren einig sind, kann uns niemand von außen spalten."

Dann widmet sie sich dem Thema, das ihre Politik in den kommenden fünf Jahren bestimmen dürfte: der Klimakrise. Sie sagt, sie wolle Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen. Dies solle in einem "Klimagesetz" festgeschrieben werden, verspricht sie. "Was gut für den Planeten ist, muss gut für die Menschen sein", sagt von der Leyen.

Ihre Rede trägt sie stehend hinter einem durchsichtigen Pult vor, das ein Saaldiener nach Ende des Vortrags gleich wieder verschwinden lässt. Immer wieder streut von der Leyen Hinweise auf ihre Biografie ein. So sei es ihr als siebenfache Mutter besonders wichtig, Armut zu bekämpfen und Kindern Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung zu verschaffen.

Den Großteil ihrer Rede hält von der Leyen auf Englisch, doch am Ende wechselt sie noch einmal ins Deutsche. Sie spricht von ihrem Vater, der am Ende des Zweiten Weltkriegs, durch den Deutschland "Tod, Verwüstung, Vertreibung und Zerstörung" über Europa gebracht habe, 15 Jahre alt war. Später arbeitete er für die Montanunion, von der Leyen kam in Brüssel zur Welt. Bei der Pressekonferenz später wird sie sagen, jetzt komme sie "nach Hause". Ihre Bewerbungsrede beendet sie mit Pathos in drei Sprachen: "Es lebe Europa, vive l'Europe, long live Europe."

In der anschließenden Debatte ergreift Manfred Weber von der EVP als Chef der größten Fraktion zuerst das Wort. Er bedanke sich für ihre Zusage, dem Parlament ein Initiativrecht einzuräumen, spricht sich aber auch dafür aus, den Nominierungsprozess für den Kommissionspräsidenten in der Zukunft zu verbessern, "damit die Hinterzimmer endlich der Vergangenheit angehören" - was im Saal mit Gelächter kommentiert wird.

Die Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, die Spanierin Iratxe García Peréz, beteuert, dass die Abgeordneten "keine institutionelle Krise" wollten. Kurz vor dem Urnengang empfiehlt sie den gut 150 Mitgliedern ihrer Gruppe, mit "Ja" zu stimmen.

Die 16 SPD-Europaabgeordneten beeindruckt das nicht. Sie verweigern von der Leyen die Unterstützung. Ihnen geht es ums Prinzip, genauer: das Spitzenkandidatenprinzip. Ohne einen Deal zwischen Rat und Parlament seien die Versprechungen von der Leyens an das Parlament nichts als "ungedeckte Schecks", erklärt die neugewählte Abgeordnete Gaby Bischoff vor der Abstimmung. Darum habe sie auch vor der Europawahl darauf bestanden, dass nur ein Spitzenkandidat Präsident der Kommission werden dürfe. Auch die Grünen blieben bei ihrem Nein zu Ursula von der Leyen, weil ihnen die Klimaschutz-Zusagen nicht weit genug gingen.

Von der Leyens Probleme in Berlin spielen in Straßburg kaum eine Rolle - bis sich der Satiriker Nico Semsrott erhebt, Abgeordneter von "Die Partei". Er fordert die Kandidatin auf, ihre finanziellen Interessen offenzulegen - und trägt dabei einen schwarzen Kapuzenpulli, der von oben bis unten mit den Logos jener Unternehmensberater beklebt ist, denen das Verteidigungsministerium jene Aufträge erteilt hat, mit denen sich nun im Bundestag ein Untersuchungsausschuss beschäftigt.

Außer Semsrott melden sich noch 80 andere Abgeordnete zu Wort. Die Kandidatin selbst sitzt schweigend in der ersten Reihe. Immerhin, ein Glas Wasser wird ihr irgendwann gereicht. "Die Debatte ist jetzt an einem Punkt angekommen, wo alles schon gesagt wurde. Nur noch nicht von jedem", zieht der schottische Abgeordnete Alyn Smith zwischendurch leicht frustriert Bilanz. Gut drei Stunden dauert das Reden-Stakkato. Danach bedankt sich von der Leyen, Händeschütteln und ein paar Selfies mit Abgeordneten, bevor sie den Plenarsaal als eine der letzten verlässt.

Eine wichtige Personalie hatte sie schon am Vorabend geklärt. Bei ihrem Besuch in der EVP-Fraktion teilte sie mit, den deutschen EU-Beamten Martin Selmayr weder als Generalsekretär der EU-Kommission noch als Kabinettschef behalten zu wollen. Selmayr gilt als rechte Hand von Jean-Claude Juncker. In der Brüsseler Polit-Blase ist Selmayr als "Fürst der Finsternis" und "Berlaymonster" gefürchtet. Die Ankündigung, auf ihn zu verzichten, dürfte von der Leyen im Parlament geholfen haben. Erst im Dezember hatte eine Mehrheit der Abgeordneten dessen Rücktritt gefordert, weil sie seine Beförderung, die binnen Minuten erfolgte, als rechtswidrig ansehen.

Zu Selmayr äußert sich die Kandidatin am Dienstag nicht. Die fünf Stunden zwischen Ende der Debatte und Beginn der Abstimmung hatte von der Leyen übrigens im Büro ihres Übergangsteams verbracht. Aus ihrem Umfeld hieß es, sie habe "Orga-Sachen" abgearbeitet. Diese Disziplin wird sie brauchen in den nächsten fünf Jahren.

© SZ vom 17.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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