Süddeutsche Zeitung

Die Bundesrepublik und die Kernenergie:Atomarer Glaubenskrieg

Kein anderes Thema bringt seit langem so viele Menschen in Deutschland auf die Straße wie die Atomkraft. Der Nuklear-Dissens ist viel mehr als ein politisches Streitthema, er gehört zu den identitätsstiftenden Themen der Bundesrepublik.

Kurt Kister

Nein, neu ist nichts an dieser neuen Atomdebatte in Deutschland. Die Argumente sind seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer wieder ausgetauscht worden, auch wenn die Anlässe verschieden waren: Harrisburg 1979, Wackersdorf in den Achtzigern, Tschernobyl 1986, der rot-grüne Atomausstieg und natürlich der Dauerstreit über Gorleben und die Castoren.

Der Schrecken von Fukushima belebt diese deutsche Debatte erneut. Das ist nicht verwunderlich, und wer jetzt behauptet, es sei doch ebenso bezeichnend wie sonderbar, dass man sich in Deutschland über einen Störfall am anderen Ende der Welt so aufrege, der blendet entweder mehr als drei Jahrzehnte deutscher Politik aus, oder er weiß es halt nicht besser.

Jenseits der Tagespolitik haben im Laufe der Jahrzehnte drei Grundfragen die Politik- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik geprägt. Da war einmal die Debatte über die deutsche Schuld, die in einer 68er-Bewegung kulminierte, der es auch um Vietnam und den Sozialismus ging, zentral aber um die Auseinandersetzung mit einer Elterngeneration, die in der Nazi-Zeit geduldet, geschwiegen oder aktiv mitgemacht hatte.

Zwar ist 1968 auch schon wieder lange her, aber trotzdem findet sich das Paradigma von 68 - Deutschland darf nie wieder in die Nähe dessen geraten, was es in der Nazi-Zeit war - in vielen aktuellen Debatten wieder. Das reicht von Einsätzen der Bundeswehr im Ausland über die Furcht vor dem Überwachungsstaat bis zur Präimplantationsdiagnostik.

Hegel ging aufs Altenteil

Die zweite der großen deutschen Fragen war die nach der Einheit in Freiheit. Großen Teilen der westdeutschen Linken war diese Frage nicht opportun; Appeasement gab man als Realismus aus, nicht nur in der SPD, sondern durchaus auch immer wieder in der CDU. Zwar befreiten sich die Ostdeutschen von der Diktatur der sozialistischen Spießer selbst, aber auch 20 Jahre nach der Vereinigung haben wir nicht nur 16 Bundesländer, sondern immer noch zwei Landesteile.

Es mag verwegen erscheinen, wenn man den Umgang mit dem Atom als die dritte dieser großen, prägenden Fragen in Deutschland bezeichnet. Und dennoch ist es so. In der Pubertät der Republik hatte die Verehrung des technologisch Machbaren den alten deutschen Reflex der Vergötterung des Staates ersetzt. Hegel ging aufs Altenteil, Siemens übernahm. Die eher romantisch Veranlagten jubelten über die Raumfahrt; jene aber, die sich selbst für die Vernünftigen hielten, setzten auf die vermeintlich friedliche Nutzung der Kernenergie. Die Kernkraft einte auch die Parteien, Union, SPD und FDP waren dafür. (Im anderen Deutschland verhielt sich die SED übrigens nicht anders.)

Zwar gab es schon in den sechziger Jahren eine Minderheit, die gegen Kernkraftwerke opponierte. Viele ihrer Angehörigen kamen aus der frühen Bewegung gegen den Atomtod, die sich in erster Linie gegen nukleare Waffen richtete. In den siebziger Jahren wurde aus der zunächst kleinen Minderheit eine große Minderheit. Der Protest gegen die militärische Nutzung der Kernkraft - Stichworte: Neutronenbombe, Nachrüstung - floss in dieser Bewegung mit der Ablehnung der Nuklearenergie zusammen. Kein anderes Thema bringt seit langem und stetig so viele Menschen in Deutschland auf die Straße wie die Atomkraft.

Daraus entstand einerseits die Partei der Grünen, die sich heute den dritten Platz im Spektrum der deutschen Parteien gesichert hat und mancherorts schon Platz zwei einnimmt. Die Grünen sind zwar längst keine linke Protestpartei mehr, aber so wie das Christliche die Identität der CDU bestimmt, bestimmt die Atomgegnerschaft die Identität der Grünen.

Zwar haben die Grünen auf ihrem Weg von der Fundamentalopposition zur allseits bereiten Regierungspartei manches über Bord geworfen, allem voran den Pazifismus. Aber anders als alle anderen waren sie von Anfang an gegen Atomkraft und werden das auch bleiben. Die SPD dagegen brauchte lange, bevor sie sich von der Pro-Nuklear-Partei zur Ausstiegspartei entwickelte.

Andererseits gehörte die Befürwortung der Atomkraft auch zu den identitätsstiftenden Merkmalen jenes politischen Lagers, dem Union und FDP zuzurechnen sind. Das AKW stand hier für Fortschritt, Wachstum, Energiesicherheit. Jenseits der unbestreitbaren Tatsache, dass Kernkraftwerke eben nun mal die gefährlichste Art der Energiegewinnung darstellen, gewannen Befürwortung von oder Gegnerschaft zur Atomkraft eine hochsymbolische Bedeutung bei der Definition des politischen Standortes, ja der Weltanschauung.

Weil das so ist, bedeutet Angela Merkels abrupte Kehrtwendung in der Atompolitik in erster Linie einen Schlag für das Selbstverständnis des konservativen Lagers. Jene vielen, die ohnehin nicht mehr wissen, an welchen Werten sich die CDU noch unverbrüchlich orientiert, bekommen nun auch noch von nahezu allerhöchster Stelle attestiert, dass die Laufzeitverlängerung keine Folge ernsthafter, sehr durchdachter Politik war, sondern lediglich die Erfüllung eines Wahlversprechens unter Schönwetterbedingungen. Es mag sein, dass die Ostdeutsche Merkel aufgrund ihrer Biographie nicht erkannt, jedenfalls nicht gefühlt hat, dass das Bekenntnis für oder gegen Kernkraft in der Bundesrepublik quasi-religiösen Charakter hat.

Geigerzähler und Jodtabletten

Ja, es gibt genug Gewissheiten, die gegen die Nutzung der Kernkraft zur Energiegewinnung sprechen, zum Beispiel dass sich Unfälle zu Katastrophen auswachsen können und dass es keine Endlager, aber nahezu endlos strahlenden Müll gibt. Aber trotzdem beginnen sehr viele Sätze im Streit über das Atom mit "ich glaube..." oder "ich glaube nicht...". Der Nuklear-Dissens ist viel mehr als nur ein politisches Streitthema. Es handelt sich um einen nun mehr als dreißigjährigen Glaubenskrieg.

Dazu passt hervorragend, dass "Atomkraft, nein danke" für eine Minderheit auch zum Lebensstil geworden ist. Zu ihnen zählen nicht nur jene entschiedenen Wackersdorf- und Bonner-Hofgarten-Veteranen, die bei jedem Anschein von gegen ihr Anliegen gerichteter Ironie wütende Briefe und Mails schreiben. Auch die Menschen, die nun wegen Fukushima in Freiburg Jodtabletten oder in Hannover Geigerzähler kaufen, erinnern ein wenig, wenn auch exakt aus der umgekehrten Richtung, an den bizarren bayerischen Umweltminister, der nach Tschernobyl Molkepulver aß, um dessen Ungefährlichkeit zu demonstrieren.

Und wir wären nicht in Deutschland, im atomaren Glaubenskrieg, wenn sich nicht die Schlauberger fänden, die ihrerseits in erster Linie kritisieren, wie hysterisch doch "die" Deutschen seien. Mag ja sein, dass das Erregungspotential hierzulande höher ist als anderswo. Und dennoch kann man froh sein, zwischen all den Hysterikern, Dandys und Söder-Fans in einem Land zu leben, in dem die Menschen so besorgt sind, dass sie zum Beispiel Kernkraftwerke als jenes Problem wahrnehmen, das sie sind - anders als bisher in Japan oder in Frankreich.

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SZ vom 19.03.2011/olkl/pak
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